© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/23 / 10. Februar 2023

Ohne Religion läuft nix
Soziologe Hartmut Rosa hält die Kirche und Glauben immer noch für wichtige Stützen für Moral- und Wertevorstellungen
Martin Krüger

Kurz und bündig, auch in der Sprache, nimmt der Soziologe Hartmut Rosa zum Thema Demokratie und Religion auf nur 74 Seiten Stellung. Absolut keinen Mainstream und auch keine der üblichen Echokammern bietet Rosa mit seinem eindeutigen Bekenntnis zur Notwendigkeit von Religion beziehungsweise Kirche an. 

Spannend ist bereits das Vorwort. Von keinem Geringeren als dem prominenten Politiker der Linkspartei, Gregor Gysi, verfaßt. Er bekennt sich dazu, selbst nicht an Gott zu glauben. Gleichwohl spricht er den Religionen ihren befreienden Gehalt nicht ab. Mehr noch, Gysi sagt: „Und es sind eben zur Zeit nur die Religionen wirklich in der Lage, grundlegende Moral- und Wertvorstellungen allgemeinverbindlich in der Gesellschaft prägen zu können.“ Kritisch erklärt er, daß die Linke durch den „realexistierenden Sozialismus“ ihren Anspruch darauf für längere Zeit verwirkt habe. Und den Konservativen traut er das aufgrund ihrer Marktfixierheit auch nicht zu. Gut findet Gysi dagegen, daß Kirchgänger dem Entfremdungstrend in der gesellschaftlichen Praxis ein Gegengewicht entgegensetzen. 

Richtig zum Thema kommt Rosa zwar erst auf Seite 53. Aber auch zuvor ist das schnell lesbare Buch interessant. Dort geht es in spannendem Tempo mit einer Tour d’horizon durch die Themenfelder des „rasenden Stillstandes“, der Corona-Impfpflicht beziehungsweise der Energieproblematik. Aktuellen Bezug zur Klimafrage stellt Rosa mit der kritischen Feststellung her, daß wir bereits heute jedes Jahr mehr Energie brauchen, nur um das Bestehende zu erhalten. Nachdenklich stimmt der Satz, daß für die Kirche Tätige es teilweise vorziehen würden, von einer Arbeit für eine „wohlfahrtstaatliche Einrichtung“ zu erzählen. 

Rituelles Arsenal von Gesten, Räumen, Traditionen und Praktiken

Auch eine zunehmende Selbstenthemmung und einen offensichtlichen Absolutheitsanspruch spricht der Autor an. In diesem würde der politisch Andersdenkende nicht mehr als Dialogpartner, mit dem man sich auseinandersetzen müsse, empfunden, sondern als „ekelerregender Feind“, den man zum Schweigen bringen müsse. Rosa verspürt auch ein Gefühl in unserer Gesellschaft nach dem Motto „Lange geht das nicht mehr gut“. Seine Diagnose lautet, daß wir sogar den Sinn für eine Vorwärtsbewegung verloren hätten. Auch der Ampel-Koalition fehle es am Glauben, daß es besser werde.

Ein zunehmendes Wissen würde zum Nichtwissen übergehen, in dem wir wie in einem Verwirrspiel nicht mehr wissen, was gut ist, was wir denn nun genau zu tun oder zu lassen haben. Bis ins Silicon Valley würde ein Umdenken vom Fortschrittlichen einsetzen hin zum Ziel: „Wir müssen alles tun, was wir können, damit es der nachfolgenden Generation nicht viel schlechter gehen wird als uns“. Somit stehe keine verheißungsvolle Zukunft mehr vor uns, sondern „ein Weglaufen von einem Abgrund, der uns von hinten einholt“. 

Für Rosa verlangt eine funkionierende Demokratie ein „hörendes Herz“. Und genau hier sieht Rosa das Angebot der Kirchen, nämlich über Riten und Praktiken. „Resonanz“ ist für Rosa dabei das alles bestimmende Schlüsselwort. Das heißt das Hören eines dezidiert Anderen, eine Verbundenheit untereinander. Für strikte Gegner der Kirchen kommt es noch dicker. Rosa meint, daß gerade die katholische Kirche über Resonanzqualitäten verfüge. Sogar noch ausgeprägter als bei der evangelischen Kirche. „New Age“ und Esoterik zieht er als Zeuge für eine tief verwurzelte Sehnsucht nach Resonanz heran. Das Ganze gipfelt in den Sätzen: „‘Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.’ Wenn das kein Resonanzappell ist!“ Religion habe die Kraft, sie hat ein Ideenreservoir und ein rituelles Arsenal voller entsprechender Lieder, entsprechender Gesten, Räume, Traditionen und Praktiken, die einen Sinn öffnen würden. Wenn die Gesellschaft das verlieren würde, dann sei sie endgültig erledigt. 

Hartmut Rosa: Demokratie braucht Religion. Kösel Verlag, München 2022, broschiert, 74 Seiten, 12 Euro