© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/23 / 10. Februar 2023

Die Jungs in der Flakstellung
Im Februar 1943 traten erste Luftwaffenhelfer den Kriegsdienst an / Bedenken im NS-Regime wischt ein „Führerbefehl“ beiseite
Alexander Graf

Im dritten Jahr des Zweiten Weltkrieges machten sich die Verluste in allen Waffengattungen der deutschen Streitkräfte bemerkbar. Bis zum Sommer 1942 war die Luftschlacht um England bereits verloren, im Atlantik tobte der U-Boot-Krieg, bei dem die Alliierten schließlich zunehmend zum Jäger der „Grauen Wölfe“ wurden, und in den weiten des russischen Raumes forderte der Kampf gegen die Sowjetunion täglich einen hohen Blutzoll. In dieser Situation erließ Hitler am 20. September einen seiner sogenannten Führerbefehle, der vor 80 Jahren in Kraft trat. 

Der Diktator verlangte umgehend die Aufstellung von insgesamt 120.000 Mann der Luftwaffe für den Erdkampf und der Marine für den U-Boot-Einsatz. Das bedeutet zugleich einen enormen personellen Aderlaß bei den Flugabwehreinheiten im Reichsgebiet. Um den auszugleichen sollten die Lücken von Oberschülern der Jahrgänge 1926 bis 1928 gefüllt werden. 

Während den Beratungen über den Kriegseinsatz der Jugendlichen äußerte aber Minister Bernhard Rust, zuständig für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Bedenken wegen des programmierten Unterrichtausfalls. Die Lösung sollte sein, daß Lehrer mit ihren Klassen herangezogen würden. Auch Reichsaußenminister Joachim Ribbentrop zeigte sich skeptisch. Er sorgte sich um die Außenwirkung Deutschlands. Sollte die Maßnahme im Ausland bekanntwerden, könnte dies als Zeichen der zunehmenden Erschöpfung des Reiches ausgelegt werden, wenn nun schon Kinder zu Soldaten würden. Selbst aus der Parteileitung der NSDAP wurden Sorgen um die Gesundheit der Schüler laut. 

200.000 Jungen im Alter von 16 bis 18 dienten als Luftwaffenhelfer

Ungeachtet dessen schuf Hitler am 7. Januar 1943 Fakten, auch wenn es einige Modifikationen der ursprünglichen Pläne gab. So sollten die Jungen als Luftwaffenhelfer (LwH) nur heimatnah eingesetzt werden – wie die Praxis bald zeigen sollte, blieb das nur ein Vorsatz. 

Am 15. Februar traten so die ersten 15- bis 17jährigen ihren Dienst an. Sie wurden an allen gängigen Flakgeschützen ausgebildet. Dabei kam ihnen zugute, daß sie die Grundlagen des Soldatenhandwerks wie Exerzieren, Bewegen im Gelände und Marschieren bereits in der Hitler-Jugend (HJ) gelernt hatten. Die HJ ihrerseits bemühte sich, auch weiterhin Einfluß auf die Jungen auszuüben. Wöchentliche Heimabende und das Tragen der HJ-Armbinde an der Uniform sollten dazu beitragen. Doch die LwH sahen sich selbst nun als Soldaten. So berichteten Zeitzeugen später, daß die Abzeichen der Parteijugend alsbald abgelegt wurden – was ihre militärischen Vorgesetzten nicht besonders störte; hatten sie im Kriegsalltag doch andere Sorgen. Die vorgegebenen 18 Unterrichtsstunden pro Woche für die Oberschüler waren in der Realität kaum einzuhalten. Daran änderte auch nichts, daß eigens eingesetzte Betreuungslehrer die Stunden auch in den Flakstellungen abhalten sollten. Nach dem Krieg konnten viele Luftwaffenhelfer daher nicht mal ein Notabitur vorweisen; und wer eines hatte, dem war die Anerkennung dieses Abschlusses nicht immer sicher. 

Der Begriff Flak- oder Luftwaffenhelfer ist im Rückblick irreführend. Wie Berichte zeigen, übernahmen die Jungen mit voranschreitender Kriegsdauer immer mehr die Aufgaben regulärer Soldaten. Es blieb nicht beim Wach- oder Telefondienst, Schanzarbeiten oder der Bedienung von Scheinwerfern zum Anleuchten feindlicher Flieger. Schließlich stellten die LwH bisweilen auch die Geschützführer und die komplette Mannschaft einer Flak. 

Genaue Zahlen darüber, wie viele Schüler als Luftwaffen- oder Marinehelfer im Zweiten Weltkrieg dienten, liegen nicht vor. Schätzungen gehen von etwa 200.000 Jugendlichen aus. Auch über die Gefallenenzahlen kann nur spekuliert werden. Die ersten toten LwH waren am 1. März 1943 zu beklagen, als sechs Berliner Schüler bei einem Luftangriff auf die Reichshauptstadt durch eine alliierte Fliegerbombe starben. Die Beerdigung erfolgte unter großer Anteilnahme der Bevölkerung, bei der Propagandaminister Joseph Goebbels anwesend war. 

„Flakhelfergeneration“ prägte die Bundesrepublik maßgebend

Sicher ist jedenfalls, daß durch Bombentreffer in Flakstellungen jedesmal viele der dort eingesetzten Schüler starben. Beispielhaft sind an dieser Stelle die 17 Toten der Stellung in Köln-Brück vom 28. Januar 1945 genannt oder die 23 Gefallenen, die bei der Bombardierung ihrer Stellung in der Nähe von Kassel starben. Die blutige Realität des Krieges konnten auch Propagandamaßnahmen des NS-Regimes wie das „Lied der Luftwaffenhelfer“ nicht ausblenden. Darin heißt es trotzig: „Wir Jungen von der Schule wohnen als Landser bei den Flakkanonen, zwar ist die Tante Frieda sehr dagegen, der Krieg ist ihr so ungelegen. Doch ist das ja nur halb so wichtig, und daß wir schießen, ist schon richtig.“ 

Ihr niedriges Alter bewahrte die Flakhelfer nach dem Krieg nicht immer vor der Gefangenschaft. Aber wegen ihrer Jugend galten sie als überwiegend unbelastet. Zu der später namensgebenden Flakhelfer-Generation (Helmut Schelsky) gehörten eine Reihe von Persönlichkeiten, die die jüngere Geschichte der Bundesrepublik prägen sollten. Erinnert sei nicht nur an den Außenminister Hans-Dietrich Genscher, den Historiker Hans-Ulrich Wehler, den Philosophen Jürgen Habermas oder die Schriftsteller Günter Grass, Martin Walser oder Medienschaffende wie Dieter Hildebrandt, Wolfgang Neuss, Rudolf Augstein und Joachim Fest. Auch der jüngst verstorbene Papst Benedikt XVI. (bürgerlich Joseph Ratzinger) gehörte zu ihnen als wohl prominentestes Mitglied in der Flakstellung.