© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/23 / 10. Februar 2023

Ankerwerfen im Strom
Die Biographie als rekonstruierter Erfahrungsraum / Ein Lebensweg als Spiegel der Ereignisse
Walter T. Rix

Wer heute von „Ostdeutschland“ spricht und das Gebiet östlich von Oder und Neiße meint, der hat einen schweren Stand. Marksteine einer Abschreibung dieses Gebietes sind der Görlitzer Grenzvertrag von 1950 und dessen Wiederaufnahme im Deutsch-Polnischen Grenzvertrag von 1990. Bereits am 8. Mai 1985, dem 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges, hatte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Bundestag erklärt: „Auf vielen alten Friedhöfen im Osten finden sich heute schon mehr polnische als deutsche Gräber. Der erzwungenen Wanderschaft von Millionen Deutschen nach Westen folgten Millionen Polen und ihnen wiederum Millionen Russen.“ Bundespräsident von Weizsäcker unterschlägt dabei, daß wir seit Jahrhunderten diesen Friedhöfen unsere Toten gegeben haben. Und wenn man den Begriff „Wanderschaft“ betrachtet, so liegt die sophistische Infamie dieser Rhetorik darin, daß dieser Begriff positiv belegt ist. Schließlich ist der Weg von einer „erzwungenen Wanderschaft“ zum „Einwanderungsland“ nicht weit, obgleich Deutschland nach Amputation von mehr als einem Viertel seines Staatsgebietes und angesichts seiner großen Bevölkerungsdichte sowie der knappen Ressourcen alles andere als ein Einwanderungsland ist. Man kann es als die letzte Phase der Vertreibung bezeichnen, wenn der Begriff „Ostdeutschland“ auf Mitteldeutschland umgemünzt wird. Die begriffliche Welt verschwindet, wenn es die Sprache nicht mehr gibt, sie zu beschreiben. Damit ist das eigentliche Ostdeutschland ausgelöscht und verschwindet auch aus allen Ordnungssystemen der Bibliotheken und wissenschaftlichen Institutionen. Bezieht man nunmehr als im ursprünglichen Sinne Ostdeutscher eine Position, so fühlt man sich in einem Strom, der alles hinwegreißt.

Um so bemerkenswerter ist es, wenn in diesem Strom ein wirkungsvoller Anker geworfen wird. Der aus Königsberg stammende Kieler Jurist Fritjof Berg, Regierungsdirektor a.D., hat jetzt mit „Land der dunklen Wälder. Erinnerungen und Wege eines Ostpreußen“ ein gewichtiges, zweibändiges Werk mit insgesamt 1.666 Seiten vorgelegt, das in diesem Zusammenhang Beachtung verdient. Bereits 1978 war der Verfasser mit seinem Buch „Über die Weichsel. Eine deutsche Rückkehr“, das nach seinem Erscheinen weite Aufmerksamkeit fand, hervorgetreten. Er schildert hierin die Reise mit der ganzen Familie nach Ostpreußen und behandelt die Fragen, die bei dieser Wiederbegegnung aufgeworfen werden, so die Spannungen zwischen einer in den Erzählungen und der Erinnerung noch gegenwärtigen Heimat und dem unter der neuen Herrschaft entfremdeten Land. Bereits die Reise mit der gesamten Familie als Reisegruppe verrät ebenso wie der Titel die programmatische Zielsetzung. 

In seinem neuen Werk greift der Autor diese Fragen wieder auf, setzt sich mit ihnen jedoch auf höherer Ebene auseinander, indem er den Darstellungsraum zeitlich und räumlich erheblich ausweitet und damit auch den Kanon der angesprochenen Probleme beträchtlich vergrößert. Die Schilderung erstreckt sich jetzt vom Ende der 1920er Jahre bis etwa Ende der 50er Jahre und schließt in dieser Zeit die ganze Palette der sich überschlagenden Ereignisse ein. 

Vertriebene wurden im politischen Kräftespiel vermehrt marginalisiert 

Bergs Schilderungen seiner „Erinnerungen und Wege“ zeichnen sich durch eine besondere Form des Berichtens aus: In einer Zeit der Dekonstruktion betreibt er ganz systematisch die Rekonstruktion seines Erfahrungsraumes. Dabei kommt ihm offensichtlich sein Charakter zugute, denn er ist ein Mann mit archivalischer Mentalität, mit einer juristisch präzisen Faktenerfassung und einem geradezu verliebten Detailinteresse. Daraus ergibt sich eine Doppelperspektive. Wie das Bild des Filmes eine Tonspur hat, so hat der fortschreitende Erzählvorgang eine parallel laufende optische Spur. Diese wird nicht nur durch eine große Zahl von Fotos gebildet, sondern vor allem durch eine überwältigende Zahl von Belegen, die von der Streckenkarte der Königsberger Straßenbahn von 1945 über behördliche Verwaltungsanweisungen und Zahlungsbelege bis zur profanen Eintrittskarte reichen. Durch dieses bewußt eingesetzte Mittel erwächst dem Leser als Korrelat zum Bericht gleichzeitig ein optischer Erfahrungsraum, in dem die dargestellte Welt praktisch mit den Augen ertastbar entsteht. Berg geht sogar noch eine Stufe weiter, indem er durch eine beigefügte CD, ein Konzert des Königsberger Heinrich-Albert-Chores, auch die akustische Dimension hinzufügt.

Insgesamt schärft der Autor unseren Blick auf die damaligen Ereignisse, so daß wir nicht umhinkönnen, so manche vertraute Vorstellung zu revidieren. In der zeitgenössischen Perspektive erscheinen Ereignisse wie die Stalin-Note 1952, der 17. Juni 1953, die Rückkehr der Saar 1955, die Aufnahme in die Nato 1955 und der Fortbestand der Vorbehaltsrechte in einem ganz anderen Licht. Was heute festgefügt ist, bot damals mehrere Optionen. Aus der Vielzahl von Einzelheiten schälen sich bestimmte Themenfelder heraus: die besondere Rolle der NSDAP in Ostpreußen, der Königsberger Heinrich-Albert-Chor als Beispiel der Kulturpolitik, Flucht sowie Opferbereitschaft, die Demütigungen im Westen und schließlich der Kampf um die nackte Existenz. 

Eine zentrale Stellung nimmt die Schilderung des Aufbaus landsmannschaftlicher Studentenvereinigungen ein, an dem der Autor maßgeblich beteiligt war. Hier öffnet sich ein besonders interessantes Kapitel, denn aus ihren Reihen hätten später Entscheidungsträger mit politischem Einflußvermögen hervorgehen können. Aber bereits in diesem frühen Stadium gibt es warnende Signale, so wenn zum Beispiel die Universität Göttingen nur widerwillig die Patenschaft für die Königsberger Albertina übernimmt. Die Blickrichtung der landsmannschaftlichen Studentenvereinigungen verlief zu sehr nach innen. Auch sahen sie in ihrem Idealismus nicht die anders gerichteten politischen Mechanismen der Bundesrepublik. Dort, wo sich Kontakte nach außen ergaben, wurden diese schnell vom Parteiensystem absorbiert. 

Leider endet die Darstellung mit dem Berufseintritt des Autors und der anstehenden Hochzeit, natürlich mit einer Ostpreußin. Die Ehe wurde auch im politischen Handeln zu einem unverbrüchlichen Bekenntnis zu Ostpreußen. Eine Fortführung der Chronik hätte erkennen lassen, wie die Vertriebenen im politischen Kräftespiel der Bundesrepublik marginalisiert wurden. Als geistige, politische und auch soziale Orientierung repräsentiert dieser eindringliche Lebensbericht jedoch das Schicksal einer ganzen Generation Ostdeutscher. Sein Wert liegt in seiner authentischen Überzeugungskraft und damit im Widerstand gegen den Strom des Vergessens.

Fritjof Berg: Land der dunklen Wälder. Erinnerungen und Wege eines Ostpreußen. Lindenbaum Verlag, Beltheim-Schnellbach 2022, gebunden, Band 1 & 2, 809 und 857 Seiten mit CD, Abbildungen, 39,80 Euro