© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/23 / 10. Februar 2023

Der schleichende Anfang vom Untergang einer großen Zivilisation
Ohne Freiheit ist alles nichts
Gerd Habermann

Es darf nicht verwundern, daß das mächtige Rom unterging, sondern eher, daß es so lange Bestand hatte, bemerkte der britische Historiker Edward Gibbon mit Recht über das antike Reich. Wie kurzlebig war verglichen damit das englische oder französische Imperium, wie labil die gegenwärtige Pax Americana?

Der Untergang begann mit Kaiser Augustus (63 v. Chr. bis 14 n.Chr.). Es starb zuerst die republikanische Freiheit, später die ökonomische und schließlich die geistig-religiöse. Am zähesten erwies sich die Steuerbürokratie, deren letzte Reste erst in der Merowingerzeit untergingen. Als die Brunnen der Stadt längst versiegt, die Tempel und Arenen verfallen, die Bäder geschlossen und die Spiele nur noch eine Erinnerung waren.

Der Niedergang des Wohlstandes seit dem dritten oder vierten Jahrhundert begann mit dem Verfall der Kapitalvermögen, der Rückbildung der Arbeitsteilung, dem kulturellen Abwärtstrend und dem demographischen Schwund. Kinderlosigkeit und Jungfräulichkeit wurden mit der Ausbreitung des Christentums zum Ideal. Ganze Städte standen leer, weite Ackerflächen lagen brach. „Im Gymnasium wächst Korn, so daß Götter- und Heroenstatuen im Sommer im Getreide versteckt sind“, faßt der Althistoriker Robert von Pöhlmann zusammen. 

Vor den Rathäusern weideten Viehherden. Die Bevölkerungszahl der Stadt Rom brach von knapp zwei Millionen auf etwa 20.000 im 7. Jahrhundert ein. Diese Menschen dürften mit melancholischen Gefühlen auf die noch lange stehenden Relikte einer größeren Zeit geblickt haben. Die Römer waren längst entwaffnet und pazifiziert. Die zu „Pygmäen“ und „Haustieren“ herabgesunkenen Bürger ließen es sich in leichtem Genußleben, häufig staatsgefüttert, in den prachtvollen Thermen und Arenen wohlergehen. 

Die Rekrutierung des imperialen Heeres gestaltete sich immer schwieriger. Seit Kaiser Marc Aurel (121 n. Chr. bis 180) ging der Staat dazu über, fremde Volksstämme in Dienst zu stellen und im Reich anzusiedeln. Der Staat fand nicht mehr die Kraft, diese „Reichsfremden“, die man offiziell „Gäste“ nannte, einzubinden. Heiratsverbote und eine „Apartheid“-Gesetzgebung verschlechterten das soziale Klima (Michael Grant). Zur inneren „Proletarisierung“ kam die äußere.

Der Typus von Staatslenkern, der sich durchsetzte – grobe Militärs wie Diokletian (ca 236 bis 312), Konstantin (ca 270 bis 337) oder Theodosius (347 bis 395) –, glaubte, die nachlassende Kraft und den sinkenden Patriotismus durch fiskalische und geistige Zwangsmaßnahmen stärken zu können. Um die ständig wachsende Zahl von Staatsfunktionären ernähren und vor allem die Bedürfnisse einer erpresserischen Armee befriedigen zu können, schien ihnen Befehl und Gehorsam, Zwangsdienste und Beschlagnahmung, Strafe und Kontrolle der beste Weg. So begann ein Interventionismus, der immer hektischer und rücksichtsloser wurde und erst mit der Auflösung des Reiches endete.

So wurde es attraktiver, nach einer niedrigen Steuerklasse als nach Gewinn und unternehmerischem Aufstieg zu streben. Neben den Abgaben, die jeder Bürger dem Staat „schuldet“, waren zunehmend persönliche Dienste nach Art der Wehrpflicht und verschiedene Naturalleistungen zu erbringen: erzwungene Gemeindedienste, etwa für öffentliche Bauten, für die Verpflegung der Truppen sowie die Bereitstellung von Zugtieren für die kaiserliche Post.

Zur Finanzierung der Bürgerkriege im dritten Jahrhundert war bei den wechselnden Inhabern des kaiserlichen Amtes die Münzverschlechterung gang und gäbe. In der Zeit von 258 bis 275 nach Christus entwertete sich das Geld um 1.000 Prozent. Diokletian und einige seiner Nachfolger versuchten die Inflation mit Höchstsätzen zu bekämpfen. So lange bis die Staatskasse sich weigerte, ebenjenes Geld anzunehmen, mit dem sie selber zahlte. Mit allem hoheitlichen Nachdruck wurde das Steigen der Preise verboten.

Jeder städtische Bürger und jeder Landbewohner wurde verwaltungsrechtlich an seine Funktion gefesselt. Die verschiedenen Berufsgruppen wurden in Zwangsorganisationen zusammengefaßt, die nunmehr für den Eingang der Steuermittel und für die Ableistung der naturalen Zwangsdienste geradezustehen hatten. Die Bürger, so heißt es in einem kaiserlichen Edikt, sollen wie Sklaven behandelt werden und kein Recht haben, fortzugehen. Ein Gesetz nach dem anderen wiederholte die lebenslange Verpflichtung der einzelnen gegenüber der Klasse oder dem Verband, dem er angehörte, und schließlich wurde diese Funktionsbindung erblich. Wer floh, wurde zurückgezwungen. 

So band der Staat den Bauern an seine Scholle, den Soldaten an seine Truppe, den kleinen Beamten an seine Dienststelle, den gewerbetreibenden Handwerker an seine Zwangsinnung. Es entstanden die obrigkeitlichen Zünfte der Fuhrleute, der Schiffer, der Schweinelieferanten, der Viehhändler usw. Zu dieser Funktionsbindung kam die Verstaatlichung von Produktionszweigen. Zwar gab es keine Meldeämter, Ausweispapiere, Arbeitsbücher und ähnliche Hilfsmittel, mit denen die moderne Bürokratie arbeitet: Rom brannte seinen Arbeitern stattdessen eine Marke auf den Arm, die sie vor den Staatsdienern jederzeit kenntlich machte. So endete der römische Bürger als Sklave der Behörden. 

Der wirtschaftliche und politische Despotismus wurde durch den geistigen vollendet. Das Römerreich in seinen besten Zeiten war religiös tolerant. Es gab im 2. Jahrhundert ein störungsarmes Nebeneinander von Kulten, Mysterien, Göttern, Mythologien. Die ägyptische Isis existierte friedlich neben der griechischen Aphrodite, die vitalen Herrscher des Olymp neben ihren nüchterneren Kollegen aus der Tiber-Stadt. Mit dem monotheistischen Christentum in der Hand der Regierung kam zum ersten Mal religiöser Fanatismus auf: „Fanatismus durfte die Sprache der göttlichen Eingebung annehmen.“ (Gibbon)

Die toleranten römischen Kaiser zeigten sich lange Zeit gleichgültig auch gegen diese ungewöhnliche Religion mit dem Gebot: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir!“ Die Bewegung wurde offiziell erst bekämpft, als es mit der Staaträson – dem Überlebensinteresse – in Konflikt geriet, da führende Christen die Soldaten zur Desertion aufriefen und mit Schadenfreude dem Sieg der „Barbaren“ entgegensahen.

Der Heide Konstantin (ca 270 bis 337), der die Hauptresidenz in das besser zu verteidigende Byzanz verlegte und in Konstantinopel umbenannte, versuchte, diese Religion allgemeiner Menschenliebe der Staatsräson dienstbar zu machen. In einem Kultursturz sondergleichen wurden alle rivalisierenden Kulte, Götter, Götter, Mysterien, schließlich alle heidnischen Bildungstraditionen und die Pracht römischer Thermen, Tempel- und Schauspielanlagen – unter Beihilfe religiös aufgeheizter Massen – vernichtet oder umfunktioniert. Die Kontrolle erstreckte sich nun auch auf das Geistig-Religiöse. Gratian (359 bis 383) und Theodosius (347 bis 395) erhoben das Christentum dann zur Staatsreligion und gewährten ihm einen Monopol­anspruch.

Die Schließung der Platonischen Akademie in Athen (529) durch Justinian war nur der letzte formelle Schritt zum geistigen Totalitarismus. Schon vorher waren die Olympischen Spiele und die heidnischen Schauspiele abgesetzt worden. Das menschenfreundliche Plädoyer des heidnischen Philosophen Quintus Aurelius Symmachus (342 bis 403) verhallte ungehört: „Ist es nicht gleichgültig, auf welchem Weg einer die Wahrheit sucht? Zu einem so großen Mysterium kann man nicht auf einem einzigen Wege gelangen.“

Die Hoffnung der Kaiser auf eine integrierende Wirkung des neuen Glaubens schlug fehl. Die verschiedenen christlichen Konfessionen und Sekten befehdeten einander gehässiger als sie früher die heidnischen Religionen bekämpft hatten. Kaiser Julian (331 bis 363) schrieb über die Christen: „Ich habe die Erfahrung gemacht, daß selbst die Raubtiere dem Menschen nicht so feindlich gesinnt sind wie die Christen gegeneinander.“

Als die germanischen Völker sich den Westteil des Reiches unterwarfen und aufteilten, war die griechisch-römische Kultur schon stark unterhöhlt, ja „barbarisiert“. In den letzten Schlachten Roms kämpften Römer kaum mehr mit. Gekaufte Germanen kämpften gegen Germanen, Hunnen gegen Hunnen, Slawen gegen Slawen. Die entpolitisierte römische Bevölkerung – selbst die großen Grundbesitzer der sogenannten Senatorenklasse – schaute den Endkämpfen tatenlos und oft mit epikurischem Kynismus zu. Ihr waren die Spiele oder die Autarkie wichtiger als das Schicksal des Reiches. Aller hatte sich ein sorgenloser und schlaffer Sinn und Gleichgültigkeit bemächtigt.

Der US-amerikanische Schriftsteller William Durant (1885 bis 1981) hat es in seiner großartigen Kulturgeschichte anschaulich geschildert: Die allgemeine Verarmung „ließ die Geister einer einst großen Rasse zu einem epikureischen Zynismus, der alle Götter außer Priapus anzweifelte, zu einer furchtsamen Kinderlosigkeit, die sich vor der Verantwortung des Lebens drückte und zu einer verdrießlichen Feigheit, die jede Hingabe verächtlich machte und jeder kriegerischen Aufgabe auswich, absinken.“ Salvian von Marseille (ca 400 bis 475) sagte seinerzeit „Rom lacht und stirbt“.

Der geldwirtschaftliche Überbau brach schließlich fast vollständig zusammen. Der antike Sklavenhalterkapitalismus starb mangels Nachschubs an Abhängigen im bürokratisierten und befriedeten Reich (Max Weber). Die Beamten und Soldaten wurden mit Land und Naturalien bezahlt. Sie erhielten Hunderte von Gegenständen zugewiesen: Lebensmittel, Tragtiere, Zaumzeug ebenso wie Schnallen und sogar Beischläferinnen. 

Als Grenztruppen dienten – militärisch fast wertlos – verheiratete Bauern, die vornehmlich vom Ertrag ihres Landes lebten, zuletzt meistens „Barbaren“. Die Kaiser waren kaum noch in der Lage, bewegliche Feldarmeen zusammenzustellen. An die Stelle der Bürokratie und der Städte traten große, dünn besiedelte ländliche Selbstversorgungseinheiten. Eine mächtige Landaristokratie setzte sich an die Stelle der Beamten. Sie wurde auch politisch immer mehr Selbstversorger mit eigenen Behörden, eigenen Streitkräften, eigenen Gefängnissen. 

Die Reichsbürokratie hatte auf die abhängigen Hörigen dieser „possessores“ keinen Durchgriff mehr. Als die letzten Schlachten im römischen Westen geschlagen wurden, war an die Stelle des Imperiums und der antiken Zivilisation praktisch bereits der natural-wirtschaftliche Feudalismus getreten. Der Soziologe Max Weber (1864 bis 1920) schrieb: „So schwand die dünn gewordene Hülle der antiken Kultur und das Geistesleben der okzidentalen Menschheit sank in lange Nacht.“ Wäre etwa ein antiker Klassiker aus seinen Pergamenten erwacht und hätte er die Welt aus seiner Klosterzelle gemustert, „hätte ihn die Düngerluft des karolingischen Fronhofes angeweht.“

Die Lehren aus dem Untergang des Römischen Reiches liegen auf der Hand: Wo die Bürokratie das Übergewicht erlangt, wo sie den „Kosmos“ einer ökonomischen und politischen dezentralisierten und auch geistig-kulturell freien Gesellschaft den zwangswirtschaftlichen Apparat und den Geist einer Kommandowirtschaft aufzudrängen sucht, sind Freiheit, Wohlstand und höhere Kultur in Gefahr, ja ist schließlich nicht einmal mehr die nackte physische Existenz gesichert. 

Öffnet man zudem die Grenzen einer beinahe unkontrollierten Masseneinwanderung von kulturell anders geprägten Völkern ist die Selbstbehauptung gefährdet, wie auch der größte deutschsprachige Kenner der Antike, Alexander Demandt (Jahrgang 1937) schrieb.

Max Webers düstere Prognose, daß die Bürokratie in Europa irgendwann ebenso über den Kapitalismus und die freie Gesellschaft Herr werden wird wie im Römischen Reich, ist bisher nicht, jedenfalls noch nicht dauerhaft und universal eingetroffen. Das Schicksal des antiken Imperiums sollte uns aber zur Wachsamkeit und zu einer Option für Freiheit und zum Schutz des Eigenen mahnen. 






Prof. Dr. Gerd Habermann, Jahrgang 1945, lehrt seit 2003 als Honorarprofessor an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam. Habermann initiierte die Friedrich-August-von-Hayek-Gesellschaft. Seine jüngste Buchveröffentlichung: „Freiheit in Deutschland. Geschichte und Gegenwart“, Lau-Verlag, Reinbek 2021.