© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/23 / 10. Februar 2023

Der doppelte Boden des Galilei
Episches Theater oder Lob der Dialektik: Zum 125. Geburtstag des Dramatikers und Lyrikers Bertolt Brecht
Ingo Langner

Als Erich Honecker Brechts „Mutter“ besuchte, war ihr Sohn Bertolt schon lange ein toter Mann. Brechts letzte Ruhestätte auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof ist schlicht. Auf dem Grabstein steht nur sein Name. Ob das seine Witwe Helene Weigel so wollte, die als Schauspielerin und Theaterleiterin Weltruhm genoß, oder die kommunistische Parteiführung, scheint immer noch ungeklärt zu sein. Brecht selbst jedenfalls hatte 1955, ein Jahr vor seinem Tod, diese Zeilen notiert: „Ich benötige keinen Grabstein, aber / Wenn ihr einen für mich benötigt / Wünschte ich, es stünde darauf: Er hat Vorschläge gemacht. Wir / Haben sie angenommen. / Durch eine solche Inschrift wären / Wir alle geehrt.“ 

Da war er wieder, Brechts hochfahrend eitler Ton, mit dem er – am 10. August 1898 als erstgeborener Sohn gutbetuchter Augsburger Eltern zur Welt gekommen – schon als junger Spund für Skandale gesorgt und junge Frauen flachgelegt hatte. Wie er sich selbst sah und gesehen werden wollte, nämlich als genialer, hartgesottener Dichter auf dem Weg zu Ruhm und Unsterblichkeit, zeigt das Drama „Baal“, dessen erste Fassung 1918 entstand. Da war Brecht 20 Jahre alt. Obwohl er sich auch schon beim „Baal“ mit fremden Federn schmückte, was zu seinem Markenzeichen werden sollte, denn Urheberechte interessierten Brecht selbst nur, wenn es um die Vermarktung seiner eigenen Werke ging, wurde er 1922 für „Baal“, „Trommeln in der Nacht“ und „Im Dickicht der Städte“ mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet. Der junge Wilde war im Kulturbetrieb angekommen.

Doch als Erich Honecker Brechts Theaterstück „Mutter“ besuchte, wurde zur postumen Feier seines 90. Geburtstags am 10. Februar 1988 nicht der anmaßende, Zigarre rauchende Provokateur in Lederjacke geehrt, sondern der Staatsdichter der Deutschen Demokratischen Republik. Der Festakt fand im Berliner Ensemble statt, ein Bühnenhaus, das ihm die DDR im März 1954, also erst fünf Jahre nach seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil, überlassen hatte und in dem Brecht 1929, da hieß die Spielstätte noch Theater am Schiffbauerdamm, mit der „Dreigroschenoper“ seinen ersten großen hochlukrativen Coup landen konnte.

Das Festpublikum begrüßte Honecker mit prasselndem Beifall 

Als Erich Honecker Brechts „Mutter“ besuchte, saß ich hoch oben im 3. Rang. Als der Staatsratsvorsitzende den Zuschauerraum betrat, erhob sich das Festpublikum wie ein Mann und begrüßte den Chef mit prasselndem Beifall. Honecker schritt ganz entspannt im Hier und Jetzt in die Mitte der ersten Reihe. Dort angekommen, schaute er huldvoll winkend seinen Getreuen fest ins Auge und nahm nach einigen Minuten schließlich Platz. 

„Die Mutter. Leben der Revolutionärin Pelagea Wlassowa aus Twer“ ist, wie manches Brecht-Stück, kein originärer Stoff aus eigenem Recht. Die Vorlage ist der gleichnamige Roman von Maxim Gorki und Thema die gescheiterte Russische Revolution von 1905. Warum ausgerechnet ein Stück über eine Niederlage an diesem besonderen Tag zur Aufführung kam, erklärt sich aus der politischen Lage im Winter 1988. In Moskau war Michail Gorbatschow 1985 zum Generalsekretär der KPdSU gewählt worden, und wie ein Lauffeuer hatten sich mit dem Schlagwort Glasnost Hoffnungen auf grundlegende Reformen in der Sowjetunion und den sozialistischen Ländern des Warschauer Pakts verbreitet. Doch in der DDR lehnte die Staatsführung Moskaus Glasnost entschieden ab. Das Politbüro wollte um jeden Preis an den „guten, alten kommunistischen Idealen“ festhalten. 

Zu dieser Parteilinie passend, trug die Schauspielerin Renate Richter in der Rolle der Wlassowa Brechts Lob des Kommunismus vor, dessen berühmt gewordene Schlußzeile lautet: „Er ist das Einfache, das schwer zu machen ist.“ Das ist nachvollziehbar, dachte ich oben im Rang. Zwei Tage zuvor, als wir als einziges westliches Fernsehteam die Generalprobe für meine ARD-Reportage über das DDR-Kulturprogramm zu Brechts 90. Geburtstag aufzeichnen durften, ging mir beim von den „proletarisch“ kostümierten BE-Schauspielern kraftvoll vorgetragenen Lob der Dialektik die Frage durch den Kopf, warum die altgewordenen Granden am BE (und wohl auch in der SED) immer noch davon überzeugt waren, daß der Adressat dieses „Lobs“ stets nur der kapitalistische Westen ist. Denn wenn es dort heißt: „Das Sichere ist nicht sicher, so wie es ist bleibt es nicht. (…) Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein? Denn die Besiegten von heute sind die Sieger von morgen, und aus Niemals wird: Heute noch!“, dann könnte doch eines Tages auch die SED zu den Besiegten gehören. Ungefähr so habe ich die Szene dann auch im Film kommentiert. Nicht vermutend, daß die Berliner Mauer am 9. November 1989 fallen und der „sozialistische Arbeiter- und Bauernstaat“ bald darauf Geschichte sein würde.

Statt nach dem Motto „Trotz Gorbatschow und alledem“ die „Mutter“ in einer staubtrockenen musealen Inszenierung zu spielen, wäre es pfiffiger gewesen, Brechts „Leben des Galilei“ aufzuführen. In dem im dänischen Exil entstandenen Stück geht es nur vordergründig um eine Generalabrechnung mit dem Papst und der katholischen Kirche. Was subkutan im „Galilei“ verhandelt wird, ist nicht der Prozeß des Physikers Galileo Galilei vor der römischen Inquisition anno 1633, sondern um das Schweigen Bertolt Brechts über Stalins Moskauer Schauprozesse ab 1936. 

„Leben des Galilei“ wurde 1938/39 geschrieben. Brechts Freundin Carola Neher ist im Juli 1936 zusammen mit ihrem Mann Anatol Becker verhaftet worden. Neher war Brechts Polly in der „Dreigroschenoper“. Sie kam in den Gulag, wo sie 1941 starb. Ihr Mann wurde bereits 1937 hingerichtet. Im Oktober 1938 wird Brecht von einer trotzkistischen Zeitschrift vorgeworfen, zwar öffentlich gegen Hitlers Verbrechen das Wort zu erheben, aber über Stalins Terror zu schweigen. Man wirft ihm vor, von Stalin gekauft worden zu sein. In Dänemark erkannte man gleich nach der Veröffentlichung, daß Brecht in die Rolle des historischen Galilei geschlüpft war und der Papst kein anderer als Stalin sein sollte. 

Ost- und West-Verleger arbeiteten für Gesamtausgabe zusammen

Brecht ließ diesen Kontext sofort öffentlich leugnen. Doch das Dementi war reiner Selbstschutz, schließlich war Brecht nicht lebensmüde. Dennoch wollte er, sicher ist sicher, „später einmal“ sagen können, sein „Leben des Galilei“ sei eine camouflierte Kritik an Stalin gewesen. Der doppelte Boden des Galilei war auch in der DDR bekannt. Das Stück endlich so zu inszenieren wie es vom Stückeschreiber tatsächlich gemeint, wäre nicht bloß eine Theatersensation gewesen, sondern auch eine Spitze gegen Moskau. Aber das haben sich die Regisseure Manfred Wekwerth und Joachim Tenschert am Berliner Ensemble nicht getraut. Hier blieb man dabei, Brecht als Klassiker zu präsentieren. 

Ganz und gar unklassisch wurde Brecht nur im Studiotheater der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch im Bezirk Prenzlauer Berg aufgeführt. Also dort, wo in den achtziger Jahren zahlreiche Dissidenten wohnten. Gespielt wurde „Der gute Mensch von Sezuan“. Erfrischend schnörkellos in Szene gesetzt von ihren Professoren Peter Schroth und Peter Kleinert, zeigten die durch die Bank hochbegabten Studenten Brechts Antwort auf die Frage, warum es (frei nach Adorno) kein richtiges Leben im falschen gibt. Die Titel-Doppelrolle Shen Te/Shui Ta spielte übrigens die damals 19jährige und seitdem mit Film- und Fernsehpreisen vielfach ausgezeichnete Claudia Michelsen.

Ebenso mutig wie die Schauspielschüler waren am Morgen des 10. Februar 1988 Elmar Faber und Siegfried Unseld. Beide Verleger, Faber war Chef des Ost-Berliner Aufbau Verlages und Unseld leitete den Suhrkamp Verlag, damals noch ansässig im Stammhaus in Frankfurt am Main, stellten in der Akademie der Künste am Pariser Platz ihr Projekt „Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe“ vor. Dies Unternehmen war ein durchaus spektakuläres deutsch-deutsches Novum. Denn bislang hatten Suhrkamp und Aufbau jeder für sich Brecht präsentiert. „Eine Ausgabe, die zu den großen editorischen Unternehmungen unseres Jahrhunderts gerechnet werden darf“, nannte die Neue Zürcher Zeitung das nunmehr seit 2000 in 33 Teilbänden plus Register vorliegende Gesamtwerk.

Faber und Unseld sprachen in dem Bewußtsein zu den maßgeblichen „Kulturschaffenden“ der DDR, etwas Historisches leisten zu wollen. In der ersten Reihe saß Brechts Tochter Barbara. Nach dem Tod ihrer Mutter Helene Weigel am 6. Mai 1971 war sie Alleinerbin geworden. Als Brecht am 14. August 1956, kurz vor Mitternacht starb, lagen noch zwei Testamente vor. Im ersten setzte Brecht seine Ehefrau Helene Weigel zur alleinigen Erbin ein. In einem zweiten wurden auch Käthe Reichel, Isot Kilian und Ruth Berlau mit einem Erbteil bedacht. Die drei waren Brechts Geliebte gewesen. Die Weigel verstand es jedoch, die chaotische Situation in ihrem Sinne zu lösen. Seitdem flossen die weltweit generierten Erträge auf ihr Konto.

Mein Film über Brechts 90. Geburtstag in der DDR endete mit einer Kreisfahrt um das am 10. Februar1988 enthüllte Brecht-Denkmal von Fritz Cremer vor dem Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm. Es zeigt den Klassiker, sitzend, in sich ruhend. Mein Off-Kommentar dazu: „Bertolt Brecht ist auf den staatlichen Bühnen der DDR museal geworden. Zukunftsgewandt spielen ihn nur die jungen Theatermacher vom Prenzlauer Berg. Und nur wenn die sich durchsetzen, dann gibt es noch Hoffnung für den armen alten BB.“






Ingo Langner, Jahrgang 1951, Literaturkritiker und Publizist sowie lange Zeit Fernsehproduzent und Theaterregisseur, ist heute Chefredakteur des Cato-Magazins, in dessen aktueller Ausgabe 3/2023 ebenfalls ein Beitrag von ihm über Bertolt Brecht erscheint.