Bereits mit ihrem Debüt „Altes Land“ eroberte Dörte Hansen 2015 die Bestsellerlisten, mit „Mittagsstunde“ konnte sie 2018 ihre Leserschaft noch erweitern. Beide Romane wurden zudem mit prominenter Besetzung verfilmt. Mit ihren skurrilen Gestalten und Geschichten vom Leben auf dem Dorf bediene Hansen die Landlust frustrierter Großstädter sowie die Sehnsucht einer globalisierten Gesellschaft nach Verwurzelung und Authentizität, merkte das Feuilleton kritisch an.
Allerdings bewegen sich Hansens Bücher nicht im klassischen Rahmen des idealisierenden Heimat-romans, vielmehr beschreibt sie in einer mal lakonischen, mal humorvollen Art das Verschwinden althergebrachter Lebensweisen. Auch in „Zur See“ geht es um den Verlust von Kultur und Tradition durch einen umfassenden Strukturwandel, um das Zerbrechen einer Gemeinschaft, die nicht immer geliebt wurde, aber Stabilität verlieh. Nicht zuletzt thematisiert der Roman die Überflutung durch all jene, die an jenen scheinbar noch intakten Orten Frieden und Wohlergehen suchen – dabei aber deren Zerstörung weiter vorantreiben.
Ort der Handlung ist eine kleine Insel in der Nordsee, die Traditionen, Wohlstand sowie die schönen, reetgedeckten Häuser früheren Generationen von Walfängern verdankt. Von ihnen stammt die Familie Sander ab, dementsprechend fuhr auch Vater Jens zur See, lebt aber nun als Einsiedler im Vogelschutzgebiet. Grund dafür ist nicht zuletzt Mutter Hanne, die – um das stete bange Warten einer Seemannsfrau zu überdecken – ihre Fürsorge lieber zahlenden Sommergästen angedeihen ließ als ihrer Familie. Die Kinder wurden derweil zum Schlafen auf den Dachboden verbannt und lernten, den Gästen die gewünschte heile Inselwelt vorzuspielen: Zahlte man früher Blutgeld durch den Walfang, der Mensch und Tier gleichermaßen den Tod brachte, fordert die heutige Dienstleistungsgesellschaft der touristischen Angebote „Seelengeld“.
Eine Flut von Fremden überschwemmt die Insel
Inzwischen sind die Kinder zu Erwachsenen geworden, vom Leben ramponiert und für zwischenmenschliche Beziehungen eher untauglich: Der Alkoholiker Ryckmer, äußerlich ein Bild von einem Kapitän, läßt nach einem traumatischen Erlebnis mit einer Riesenwelle seine Messingknöpfe nur noch auf der Inselfähre blitzen und ist besessen davon, die nächste große Flut vorherzusagen. Seine Schwester Eske pflegt alte Insulaner im Seniorenheim und drängt mit ihrem Kleinwagen zu dröhnenden Death-Metal-Klängen Touristen von der Straße. Nur Henrik, der jüngste Sohn, lebt frei von Konventionen von dem, was das Meer ihm schenkt: Aus Treibgut formt er Figuren, die von einem findigen Galeristen als „Driftwood Art“ an betuchte Freizeitinsulaner verkauft werden und deren Vorgärten das gewisse Etwas verleihen sollen.
Die teuer erworbenen reetgedeckten Häuser der Freizeitinsulaner stehen zwar den Großteil des Jahres leer, doch bilden ihre Besitzer eine neue, in sich geschlossene Bevölkerungsgruppe auf der Insel. Hinzu kommen „Kurztripper“, die sich für ein paar Tage entschleunigen wollen, sowie eine Vielzahl von Tagesausflüglern. Die Insulaner haben sich darauf eingestellt, der Tourismus ermöglicht bessere Einkünfte bei leichterer Arbeit: Die Werkzeuge der traditionellen Seefahrt wurden im Inselmuseum ohnehin längst zu Relikten, die nur noch als pittoreskes Detail einer vergangenen Epoche dienen, ebenso wie der heimische Dialekt, auf Tonbändern festgehalten, bald nur noch das „Archiv der Nordseesprachen“ an der nahe gelegenen Universität bereichert. Krabbenfischer rüsten ihre Boote zum Schaufang für Touristen um, da die Fangquoten der EU ein finanzielles Auskommen fast unmöglich machen.
Das Land wird an Investoren verkauft, die weitere Hotelanlagen bauen; Häuser und Wohnungen werden an Gäste zu Preisen vermietet, die die Einheimischen längst nicht mehr zahlen können. Wie das Meer bei Sturm Teile vom Strand wegreißt, überschwemmt die Flut der Fremden die Insel und höhlt sie im Innersten aus, wozu auch die Inselbewohner beitragen. So entsteht eine Welt, die nur noch aus Kulissen besteht, deren „Wahrhaftigkeit“ längst einer Fälschung gewichen ist.
Die Natur in ihrer Unbeugsamkeit existiert nach eigenen Gesetzen
Doch obwohl die Insulaner ihre Bodenhaftung bereits verloren haben, sehen Besucher vom Festland das Meer weiterhin als letztes Refugium für ihre Sehnsucht nach Sinn. Denn Inseln, so Dörte Hansen, ziehen Menschen mit Verwundungen magisch an: „Und die See soll es dann richten, und der Wind soll pusten, bis es nicht mehr wehtut.“ Bei schlechtem Wetter verirren sich die Sinnsucher sogar in die alte Kirche, die seit Jahrhunderten den Stürmen trotzt. Auch Pastor Lehmann, selbst ein Zugezogener, hat sich deren Bedürfnissen angepaßt und bietet in den Sommermonaten tägliche „Seelensnacks“ an. Er weiß, daß er „leuchten kann“ für sein „Heer der Ungetrösteten“ – doch durch seine Wellness-Religion leidet die echte Seelsorge für die Einheimischen. Bis ihn eines Tages anonyme Anschuldigungen in Selbstzweifel versetzen und er mit seinem Glauben ringt.
Entgegen einer quasireligiösen Aufladung beschreibt Hansen das Meer als eine Metapher für das unwägbare Unbekannte, für eine größere Macht, die nicht gezähmt werden kann und sich keinen moralischen Zwängen unterwirft. Es ist die Natur in ihrer Unbeugsamkeit, die nach eigenen Gesetzen existiert. Hat der Mensch die Orientierung verloren, wird die See ihn nicht retten – ebensowenig wie den jungen Wal, der auf seinem Weg durch den Atlantik einmal falsch abgebogen ist und nun am Strand der Insel verendet. Er ist ein Abgesandter aus den Tiefen des Meeres, eine Gabe der See an die Nachkommen jener Walfänger, denen die Insel ihre Traditionen, ihre Lebensweise und ihren Wohlstand verdankt. Doch entblößt der Wal nur den Kompetenzverlust der heutigen Inselbewohner angesichts seiner extremen Präsenz noch im Tod; er ist kein verwertbares Treibgut, sondern ein riesiger, stinkender Haufen der Verwesung, den letztlich Spezialisten vom Festland beseitigen müssen.
Anders als ihre Figur Ryckmer Sander ist Autorin Dörte Hansen kein Chronist des Untergangs; sie beschreibt den Status quo der Inselgesellschaft als neutraler Beobachter. Auch ihre lakonische, schnörkellose Sprache hat sie dem Thema angepaßt: In einem steten An- und Abschwellen, ähnlich dem Rhythmus des Meeres, wird mal die eine, mal die andere Figur in den Vordergrund geschwemmt. Und immer wieder haben sich die Figuren zwischenzeitlich verändert, verraten etwas mehr über sich, schlagen neue Richtungen ein. Der Leser steht derweil am Strand und sammelt die immer wieder neuen Aussagen, die bisweilen auch die Richtung ändern, wie Treibgut ein, um aus ihm eigene Gestalten zu formen.
Es ist der unerbittliche Wandel der Zeiten, von dem Hansen mit Melancholie und Witz sowie mit der Wellenbewegung ihrer Sprache erzählt. Einer Sprache, die „gleichmütig wie die See“ ist. Doch in ihren Tiefen breiten sich Unterströmungen aus, die Aussagen und einander konterkarierende Thesen in die Wahrnehmung des Lesers spülen – ebenso wie den Wal, der nun wie der sprichwörtliche Elefant im Raum steht, kaum zu übersehen in seiner massiven Präsenz und nicht mehr zurückzunehmen: Kulturen vergehen, sofern man sie nicht lebt, scheint er zu sagen. Und so landen Wissen, Tradition und Sprache im Archiv; wird Können und Kompetenz zugunsten des Strukturwandels abgewickelt und nur noch als touristisches Event ausgeübt.
Die Einheimischen beugen sich den vermeintlichen Notwendigkeiten der Zeit, lassen sich und ihre Lebensweise durch Gesetze der EU, Überfremdung oder Bequemlichkeit bestimmen. Hätte man sich beizeiten für das Leben auf der Insel einsetzen können, ja müssen? Was ist noch zu retten, wiederzubeleben von den früheren Werten? Wie die Familie Sander als Sinnbild für den Verlust des gesellschaftlichen Zusammenhalts gedeutet werden kann, ist auch die kleine Insel in der Nordsee ein Archetypus für ein Land, dem die Überflutung und mit ihr das Verschwinden droht.
Wie auch immer man Dörte Hansens Roman „Zur See“ lesen und interpretieren mag – inhaltlich wie sprachlich bietet er eine Leseerfahrung, die lange nachwirkt.
Dörte Hansen: Zur See. Roman. Penguin Verlag, München 2022, gebunden, 256 Seiten, 24 Euro