Zur Freiheit in der Zeit gelangt jeder, der zur Freiheit von der Zeit gefunden hat und es versteht, sich freizumachen vom Druck der sich überstürzenden Augenblicke mit ihrem Lärm und ihrer Nichtigkeit. Davon handelt Hans-Dieter Sailers Roman ohne Handlung „In unserer Zeit“, ein „Roman im Fragment“, wie der Untertitel verheißt. Es ist nicht allein der Tod des Schriftstellers mit 56 Jahren, der 2017 den Abschluß verhinderte. Es liegt am Charakter des Lebens, das sich in ununterbrochenen Endlichkeiten, die rasch vergehen, fragmentarisch entwickelt.
Insofern ist das Fragment eine angemessene Kunstform, um Erinnerungen zu ordnen, wie der Protagonist Gregor Londron vermutet, ein Historiker, „dem so ziemlich alles im Leben zum Fragment geworden war“. Aber nicht nur ihm. Seinen Freunden, die sich regelmäßig treffen, geht es nicht anders. Ihre Zeit oder „unsere Zeit“ mit ihrer peinlichen Banalität bereitet ihnen Verdruß. Der flüchtigen Gegenwart sind sie nichts schuldig. Dem Zeitalter der „Manipulation“ suchen sie zu entfliehen. Sie fühlen sich der Vergangenheit verpflichtet, der Welt von gestern, die 1914 dramatisch endete. Eine Welt, die noch nicht durch das Parteienunwesen geprägt war und der mit ihm verbundenen Geschwätzigkeit, Indoktrinierung und Manipulation.
Diese versunkene Welt strebte noch nach Schönheit im Denken und im Auftreten, um dem Leben Form zu verleihen und eine Freiheit des Geistes und einen Ausgleich der unerschöpflichen Individualitäten untereinander zu ermöglichen. Die Freunde begreifen sich als Epigonen und sind entschlossen, in Treue zur Vergangenheit und dem dort aufbewahrten Erbe dem Zeitalter eine unerschrockene Antwort auf dessen Zerfahrenheit zu geben, nämlich Distanz zu ihm zu wahren und zu den alltäglichen Gemeinheiten.
Sie erzählen sich Geschichten aus dem 19. Jahrhundert, mit alten Formen spielend und längst Vorhandenes aufgreifend. Sie entwerfen eine Gegenwelt zum alles häßlich machenden Ökologismus mit seiner Geistlosigkeit, weil ohne Gedächtnis. Das sind Fragmente innerhalb des Fragments. In ihnen begegnet Siegfried, den es ins Große und Freie verlangt, Schneewittchen, die nach ihren sieben Zwergen sucht. Der junge Held und Wanderer in Goethes Sinn schüttelt den Kopf über ein solches Bedürfnis nach kleinsten Verhältnissen, das den Wunsch nach Freiheit erstickt. Während mancher Abenteuer, bei denen er erfährt, daß die Welt, in die er aufbricht, dem Untergang geweiht ist, stößt er als Wanderer auf einen gelehrten Hasen, in dem er sofort einen Intellektuellen erkennt, der ihn, den Freien, das bislang unbekannte Fürchten lehrt. Vor der Furcht und den intellektuellen Hasen, die Angst erregen und verbreiten wollen, muß sich hüten, wer frei bleiben möchte.
In diesen geistreich-verspielten Erzählungen kommen mythologische und historische Personen zusammen, Rapunzel, Metternich, der Chemiker Justus von Liebig, Lohengrin, Bismarck und Ludwig II. Sie alle wissen, daß bald das Zeitalter der Esel anbrechen wird, in dem im Namen der Freiheit, Gleichheit und Liederlichkeit schreckliche Esel auftreten werden, neben denen die früheren fast kauzig wirken. Beim Leser werden Erinnerungen an Immermann, Eichendorff oder Gutzkow geweckt, an Musiker und an die Hoffnung, viribus unitis, mit vereinigten Kräften den auflösenden Mächten zu widerstehen, die sich überall bemerkbar machen. Viribus unitis war das Motto, das Kaiser Franz Joseph sich und seinen Völkern gegeben hatte. Der Wille zu einem freien Dasein, der aufdringlichen Umwelt abgewandt, setzt voraus, sich entschlossen in der Vergangenheit besonderen Vergangenheiten anzuvertrauen, Fragmenten, die dennoch eine Ganzheit veranschaulichen. Gregor Londron entscheidet sich für Wien und Österreich.
Er stammt aus Oberfranken und schildert eindringlich die Welt der Bauern und Kleinstädter, in der er aufwuchs. Doch die Familie und deren Verhältnisse sind unentrinnbares Schicksal, sie sind auferlegt, aber nicht freiwillig ausgesucht. Die wahren Erinnerungen haben hingegen mit den Menschen und Städten zu tun, die jeder als zu sich gehörend empfindet und mit denen er zusammen zu seinem ganz eigenen Leben erwacht, das in der fremden Gegenwart so gestaltet werden muß, als sei es ein Leben in der Welt von gestern.
In Wien richtete er sich als Student in einem Nachbarreich der Wirklichkeit ein, in Archiven und Bibliotheken, in der Oper, in Museen und vor allem im Kaffehaus, der wahren Heimat aller in ihrer Zeit Heimatlosen. In Wien erfuhr er, daß die Welt ein großes Buch ist und lesend entdeckt wird. Bücher sind das Mittel, sich seine eigene Welt zu schaffen und sich dem zu verweigern, was alle tun sollen. Vor der Unfreiheit und dem Verfallensein an die Aktualität schützt allein das die Beschleunigung aufhaltende Prinzip, was meint, zurückzuschauen, mit und aus der Vergangenheit zu leben, und auf diese Art gefestigt voranzuschreiten, statt hilflos hin und her geworfen zu werden.
Die Abtrünnigen der Gegenwart sind selbstverständlich römisch-katholisch. Wie ihre Kirche mißtrauen sie dem verabsolutierten Wort und der Ideologie und folgen dem anschaulichen Beispiel. Der Heilige Christophorus wird als Repräsentant der den Verfall verzögernden Vereinzelten beschworen. Dieser kräftige Mann bahnt sich resolut trotz erheblicher Widrigkeiten seinen Weg, um den Christusknaben und die Welt, symbolisiert durch den kaiserlichen Reichsapfel, vor allen Gefahren zu schützen. Er schreitet unaufgeregt in die Zukunft, weil er sich von der Gegenwart nicht beirren läßt. Dieser Roman ist auch ein katholischer Roman, nicht im oberflächlichen und erbaulichen Sinne. Gregor und seine Freunde geben sich keinen frommen Illusionen hin, weil die Heiligen und viele Märtyrer längst abermals zum Tode verurteilt und beseitigt worden sind.
Es ist ein Roman, in dem Einzelgänger, die eine unauffällige Gemeinschaft bilden, an vielem zweifeln, aber nicht daran, daß der Mensch sich in der Welt als Geschichte entwickelt. Diese ist etwas anderes als ein besinnungsloser Zeitstrudel, weil es in ihr Gestalten, ordnende Mächte gibt, die Dingen und Menschen Dauer verschaffen. Dichter, Musiker, Denker, die es mit dem Schönen zu tun haben, aber auch Heilige wie der Christopherus, der mit Christus auch das Schöne rettet. Denn Gott und das Schöne sind eins, wie die Römische Kirche lehrt. Dieses Buch macht neugierig auf weitere posthume Schriften Hans-Dieter Sailers, der während seines relativ kurzen Lebens viel schrieb. Doch erst als ein vergangener Autor wird er nun gegenwärtig.
Hans–Dieter Sailer: In unserer Zeit. Roman im Fragment. Hrsg. von Wolfgang Hariolf Spindler. Morio Verlag, Heidelberg 2022, gebunden, 196 Seiten, 20 Euro