© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/23 / 03. Februar 2023

Der Flaneur
Soll’n die doch frieren!
Paul Leonhard

Schwere, dunkle Wolken entladen ihre Last über der Stadt. Erst gießt es, dann hagelt es. Die Spaziergänger und Einkäufer hasten nach Hause. Die Sekretärin dreht den Heizkörper auf fünf. Es sei kalt, meint sie und rät mir, in meinem Büro ebenfalls die Heizung hochzudrehen. Die Frau meint es gut und sie kann ja nicht ahnen, daß ich seit heute morgen im Zuge eines kleinen privaten Kälteexperiments ein folgsamer Bürger geworden bin, der auf die Signale der Bundesregierung hört und für Frieden, Freiheit und Klimaschutz bereit ist zu frieren. Ich weiß zwar nicht exakt, wie die Stadtwerke ihre Fernwärme produzieren, aber irgendwie wird es schon mit Rohstofflieferungen aus dem Land des Bösen zu tun haben.

Entsprechend kalt ist auch die Wohnung, die ich abends betrete. Da die Nachbarin ausgezogen ist, ist der Wärmekreislauf unterbrochen, der durch die durchlaufenden Rohre auch bei abgedrehter Heizung für eine angenehme Grundwärme gesorgt hat. Fröstelnd trete ich an den Heizkörper, aber beim Blick auf die ukrainische Fahne vor dem Rathaus denke ich sofort wieder an Gauck und an Schäuble und dessen Zwei-Pullover-anziehen-Spruch. Ich hülle mich in meinen gefütterte Ostparka und mache es mir mit einem Glas Rotwein im Liegestuhl gemütlich.

Zu Ostzeiten heizte man den Kachelofen an und ging erst einmal auf ein Feierabendbier in die Kneipe.

Lesen geht nicht, dazu müßte ich Strom verbrauchen. Auch das Radio bleibt aus. Dafür ziehe ich mir die große Kapuze über den Kopf. Zu Ostzeiten war die Wohnung zum Feierabend auch kalt. Da heizte man den Kachelofen an und ging erst einmal auf ein Feierabendbierchen in die Eckkneipe, wo schon die anderen Anheizer hockten.

Ich träume von alten Zeiten und schrecke hoch. Die Turmuhr schlägt Mitternacht. Ich muß eingeschlafen sein. Die Zimmerwand zieren Rechtecke in unterschiedlichen Weißtönen, die sich teilweise überlagern und verzerren. Ursache sind die Scheinwerfer, mit denen die Stadt die historischen Gebäude anstrahlt und die sich in den Fenstersprossen brechen. Mit den Fingern kann ich Schattenspiele an der Wand machen. Es ist kalt, stellen die Finger fest. Fröstelnd gehe ich ins Bett und ziehe die Decke über beide Ohren. Blöde Regierung, denke ich. Soll’n die doch frieren!