Das Buch des Politikwissenschaftlers Josef Braml wurde geschrieben vor dem Anschlag auf die Nordstream-Pipeline und die deutsche Gasversorgung 2022, es ist aber dennoch von aktuellem Lesewert, vor allem wegen seines fünften Kapitels über „Geo-Ökonomie: Die Politisierung von Handel, Finanzen und Technologie“ und damit auch über den Zusammenhang von Geostrategie und Geoökonomie. Eine Kostprobe: „In der heutigen, dynamischen geo-ökonomischen Auseinandersetzung geht es um die Kontrolle von Strömen, insbesondere von Energie-, Rüstungs-, Industriegüter-, Finanz- und Datenströmen. Das Spiel der Kräfte auf freien Märkten wird politisch ausgehebelt und manipuliert.“ Und nach dem Anschlag auf Nordstream gegebenenfalls auch militärisch.
Die Kernthese des Buches lautet, „der Glaube, daß Washington in Zukunft in derselben Weise wie früher unsere Sicherheit garantieren und unsere Interessen mitvertreten wird, ist eine Illusion. Es ist die transatlantische Illusion.“ Der Autor, Josef Braml, gilt als USA-Experte. Als langjähriger Mitarbeiter der Brookings Institution, des Aspen-Instituts oder als Berater im US-Abgeordnetenhaus ist er dies auch. Bereits das erste Kapitel über die USA ist zwar durchgehend von Sympathie geprägt, aber kritisch. Aktueller als das zweite Kapitel über China und die Beweggründe der US-Hinwendung nach Ostasien ist das folgende Rußlandkapitel, die Genesis der Ukraine-Krise und die langjährigen Bruchlinien im transatlantischen Verhältnis. Hier werden propagandistische Übertreibungen sachlich zurechtgerückt und Interessenunterschiede benannt, mit denen man sich gerade in Deutschland nicht gern beschäftigt. Im Zentrum steht dann das fünfte Kapitel über die Geo-Ökonomie, mit so aufschlußreichen Zwischenüberschriften wie „Amerikas Marktmanipulation“, „Wirtschaften auf Pump“ und „Dollar-Dämmerung“.
Neogaullistischer Schwenk von Washington nach Paris
Eine Enttäuschung bildet dann leider das letzte Kapitel über europäische „Souveränität“ und Leitlinien für eine neue Außenpolitik, also die Schlußfolgerung aus den vorigen Kapiteln, gerade auch angesichts uneingelöster „Zeitenwende“-Versprechungen. Das fängt schon damit an, daß die darauf bezogene deutsche Diskussion der letzten Jahre seit der Krim-Annexion komplett ignoriert wird, wie der Anmerkungsapparat zeigt: Abgesehen von einem US-Autor taucht dort ausschließlich der französische Staatspräsident als Ideengeber auf.
Bramls Folgerungen bestehen somit lediglich in einem neogaullistischen Schwenk von Washington nach Paris. Deutschland solle „sein sicherheitspolitisches Schicksal an Frankreich“ binden. Unbelegte Behauptungen der Art, „Paris wäre durchaus bereit, seinen atomaren Schutz in eine europäische Gesamtstrategie einzubringen“, entsprechen politischem Wunschdenken und Anlehnungsbedürfnis. Falsch ist die Vorstellung, eine deutsche nukleare „Teilhabe an der ‘Force de Frappe’ wäre nicht minder sicher, vielleicht sogar zielsicherer als die bisherige Teilhabe“ bei den USA, die Washington „einen mächtigen Hebel in die Hand (gebe), der immer mehr dazu dient, aus dem Schutzversprechen politisch und wirtschaftlich Kapital zu schlagen“. Doch was würde sich daran ändern, würde Berlin Washington durch Paris ersetzen?
Von der US-Hegemonie in Europa sind beide EU-Führungsmächte betroffen, von einer französischen Hegemonie nur Deutschland. Wäre ein französisches Europa aber besser als ein amerikanisches? Sind Illusionen über Frankreich besser als transatlantische? Die Ablösung einer deutsch-französischen Partnerschaft durch eine deutsche Unterordnung unter einen gleichstarken französischen Konkurenten würden die Risse in der EU vergrößern. Dieses Modell ist in Europa immer gescheitert, und nichts spricht dafür, daß es diesmal anders wäre. Wie wäre es deutscherseits stattdessen frei nach Kant mit einem „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“?
Fazit: Bramls Buch ist ein lesenswertes Werk, weil es den Blick für aktuelle transatlantische Herausforderungen schärfen kann, Optionen für eine Selbstbehauptung liefert es aber weder für Deutschland noch für Europa. Hier zeigt sich am deutlichsten die Nichtrezeption der deutschen Diskussion. Inzwischen hat auch verbal in der Berliner Politik die Vorstellung, das deutsche Verstecken hinter anderen sei auch weiterhin die Lösung, deutlich nachgelassen. Diese Einsicht muß eben nur noch in operative Politik umgesetzt werden.
Josef Braml: Die transatlantische Illusion. Die neue Weltordnung und wie wir uns darin behaupten können. Verlag C.H. Beck, München 2022, broschiert, 176 Seiten, 16,95 Euro