© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/23 / 03. Februar 2023

Den Präsidenten aus dem Blick verloren
Die Journalistin Carol Leonnig enthüllt spektakuläre Zustände beim Secret Service, der seit 120 Jahren dem Schutz der US-Präsidenten dient
Jürgen W. Schmidt

Das aktuelle Buch über den US-amerikanischen „Secret Service“ der Washington-Post- Journalistin und Pulitzerpreisträgerin Carol Leonnig, gestützt auf jahrelange investigative Recherchen, wurde in den USA als „Weckruf“ über erschreckende Enthüllungen aufgenommen und ist auch für deutsche Leser durchaus lesenswert. 

Der Secret Service wurde 1865 zur Bekämpfung der damals häufigen Dollarfälschungen vom US-Finanzminister begründet und ist seit 1901 in seiner neuen Hauptaufgabe für den Personenschutz der US-Präsidenten zuständig. In den vergangenen Jahrzehnten kamen zu dieser Aufgabe noch der Schutz der Präsidentenfamilie inklusive der fernen Verwandten, des Vizepräsidenten und der wichtigsten Minister und höheren Beamten hinzu. Selbst aussichtsreiche Präsidentschaftskandidaten bekommen in der Zeit der Wahlkampagne Personenschutz vom Secret Service. Doch trotz seiner aktuell 7.600 Mitarbeiter und eines Jahresbudget von 2,2 Milliarden Dollar ist der Secret Service seinen Aufgaben zunehmend nicht mehr gewachsen, und die Zahl der sicherheitsbedrohlichen Situationen stieg beachtlich. 

Diversität wurde zuletzt auf Kosten der Effektivität priorisiert

Dazu trugen viele Faktoren bei. Einerseits wird der Secret Service finanziell kurzgehalten und kann sich den Bedrohungen des modernen Terrorismus (Angriffe mit Flugzeugen oder Sprengstoffdrohnen) kaum adäquat entgegenstellen. Zudem hat man die ursprünglich strenge Personalauswahl im Zeitalter von Diversity derart gelockert, daß unter den jährlich über 30.000 Eigenbewerbungen mittlerweile auch Armamputierte, adipöse Männer und sogar Drogensüchtige akzeptiert werden. Zudem stellte man auf Wunsch von Präsident Oba-ma zunehmend ethnische Minderheiten und viele Frauen ein, was zur Folge hatte, daß den zuvor monolithisch männlich und konservativ geprägten Secret Service nunmehr eine wachsende Zahl von Klagen über ethnische und sexuelle Diskriminierung intern belasten. Dies führte zu einer schädlichen Cliquenbildung, und manche der Klagen dürften wohl nur dazu dienen, den Vordermann zwecks Förderung der eigenen Karriere aus dem Weg zu räumen.

Infolge der ungesunden Dienst- und Lebensverhältnisse ist gleichzeitig die Anzahl der in den Medien genüßlich breitgetretenen Sex- und Suffskandale innerhalb des Secret Service beachtlich gestiegen. Allerdings scheiterte unter Präsident Clinton das Ansinnen, den Secret-Service-Mitarbeitern eine gesetzliche Schweigepflicht gleich Ärzten und Rechtsanwälten aufzuerlegen, als sie nämlich über Sex-Eskapaden des Präsidenten aussagen sollten. 

Obwohl Leonnig im Buch ziemlich parteilich auftritt, sie vergöttert Obama und kann ihre tiefe Abneigung gegenüber Donald Trump nicht verbergen, legt sie doch ihren Finger auf die zahlreichen Wunden des Secret Service. Als Quelle dienten ihr vorrangig Interviews mit ehemaligen beziehungsweise noch aktiven Mitarbeitern des Dienstes.

Carol Leonnig: Secret Service. Die geheime Geschichte der Agenten, die den US-Präsidenten schützen sollen. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2021, gebunden, 671 Seiten, 25 Euro