© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/23 / 03. Februar 2023

Geht das chinesische Wirtschaftswunder zu Ende?
Xis Entscheidungen
Erich Weede

Die öffentliche Abführung des ehemaligen chinesischen Staatspräsidenten Hu Jintao aus dem Nationalen Volkskongreß im Oktober 2022 zeigt überdeutlich: Der jetzige Machthaber Xi Jinping führt das Land weiter Richtung Autokratie. Hu regierte bis 2013 und stand für einen weicheren Kurs.

Bereits im Herbst zuvor hatte sich Xi seine Bestätigung als Parteichef der Kommunisten und damit als starker Mann Chinas für mindestens fünf weitere Jahre gesichert. Peking ist offenbar nicht gewillt, sich an westlichen Idealen zu orientieren. Lange hegten viele Beobachter die Hoffnung, daß ein wohlhabenderes China sich auch demokratischer zeigen würde. Jetzt nicht mehr. Was bedeutet die Verfestigung der Autokratie für die riesige Volkswirtschaft? Weder Autokratien noch Demokratien scheinen einen bedeutsamen Wachstumsvorteil zu genießen. Ist es deshalb für die Wachstumsaussichten im Reich der Mitte egal, daß Xi Jinping seine Machtposition und damit die Autokratie in China befestigen konnte? Nein!

Demokratien neigen zu mäßigen, in längeren Zeiträumen fast immer positiven Wachstumsraten – zu solider Mittelmäßigkeit, könnte man auch sagen. Bei Autokratien dagegen kann alles passieren. Es gibt Beispiele für Wirtschaftswunder, aber es gibt auch viele massive Einbrüche der Ökonomie mit zweistelligen negativen Wachstumsraten. In der Autokratie kommt es darauf an, ob der Machthaber Fehler macht oder sie vermeidet. Autokratien neigen dazu, extreme Wirtschaftsleistungen in beide Richtungen zu erzeugen, also Katastrophen oder Wunder. Die Wirtschaftsgeschichte seit Gründung der Volksrepublik ist das beste Beispiel.

Die frühen 1960er Jahre, nach dem „Großen Sprung nach vorn“, waren ein absoluter Tiefpunkt mit einem massiven Wirtschaftseinbruch und dem Hungertod von vielleicht mehr als 40 Millionen Menschen. Seit Deng Xiaopings (1904–1997) Reformen ab Ende der Siebziger Jahre bis heute dagegen hat China ein großartiges Wirtschaftswunder hingelegt und seine ökonomische Kraft um den Faktor 30 und den Lebensstandard der Bevölkerung um den Faktor 20 gesteigert.

Ob es weiter bergauf geht und mit welchem Tempo – das hängt vor allem von Xi ab. Seit dem britischen Ökonomen Adam Smith (1723–1790) und damit seit mehr als 200 Jahren wissen wir, daß die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben, ein mächtiger und unverzichtbarer Arbeitsanreiz ist. Andernfalls sind Menschen der Versuchung ausgesetzt, möglichst viel zu konsumieren, sich aber bei der Produktion zurückzuhalten. So funktionieren Volkswirtschaften nicht.

Der österreichische Ökonom Ludwig von Mises (1881–1973) hatte kurz nach der Russischen Revolution erkannt: Eine rationale Ressourcenverteilung braucht zusätzlich zum Eigentum als Arbeitsanreiz unbedingt auch Privateigentum an Produktionsmitteln, an Fabriken und Unternehmen. Nur dann kann es einen Wettbewerb auf den Inputmärkten geben, wo Rohstoffe, Zwischenprodukte und Arbeit erworben werden. Ohne Privateigentum und Wettbewerb erzeugt der Markt keine Preise, die über Knappheiten informieren. Und deshalb findet dann keine rationale Allokation (Verteilung) der Ressourcen statt.

Der zweite große Ökonom der Österreichischen Schule, Friedrich August von Hayek (1899–1992), legt den Wert impliziten Wissens dar, das nicht in Texten oder Formeln festgehalten wird. Bauern besaßen schon implizites Wissen, bevor sie lesen und schreiben konnten. Sie wußten, was auf welchem ihrer Felder gedeiht, wann man sät oder erntet.

Auch das Wissen von Handwerkern ist in Arbeitspraktiken implizit. Laut Hayek muß Wissen nicht universell gelten, sondern sein Geltungsbereich kann auf konkrete Zeiten oder Räume begrenzt sein, wie das Wissen eines Unternehmers darüber, welcher seiner Lieferanten von Komponenten zuverlässig ist. Implizites Wissen ist Erfahrung. Wissen ist nach Hayek daher auf Millionen Köpfe verstreut und nicht zentralisierbar. Es kann nur optimal genutzt werden, wenn die Menschen die Freiheit haben, eigenständig zu entscheiden, und die Folgen ihrer Entscheidungen tragen müssen, also für ihre Entscheidungen verantwortlich gemacht werden.

Während sich Mises und Hayek mit Preisen und Wissen beschäftigten, kümmerte sich ihre Landsmann Joseph Schumpeter (1883–1950) um Unternehmer, Innovationen und Strukturwandel. Er zeigte den Unterschied zwischen Erfindungen und deren Nutzung zu wirtschaftlichen Zwecken, sprich Innovationen.

Die Erfindung eines Ingenieurs beispielsweise läßt die Frage der profitablen Nutzung zunächst offen. Bisher ungenutzte Profitmöglichkeiten zu erkennen und zu realisieren, ist die zentrale Funktion des Unternehmers. Der Wettbewerb zwingt ihn dabei zur Eile. Denn häufig kann der Unternehmer am Anfang außergewöhnliche Gewinne einstreichen. Innovationen verschärfen den Wettbewerb, sind aber auch ein Instrument, um zeitweilig dem Wettbewerb zu entkommen.

Bei der für Entwicklung notwendigen kreativen Zerstörung in der Marktwirtschaft müssen immer auch Unternehmer scheitern, wobei die Beschäftigten ihre Arbeitsplätze verlieren können. Innovation und Wettbewerb setzen voraus, daß der Staat den Unternehmern Entscheidungsspielraum und Profitchancen läßt, sie weder durch Regulierung noch durch Enteignung oder Besteuerung entmachtet, sie aber auch nicht künstlich am Leben hält.

Wenn man die Einsichten der vier genannten Ökonomen zusammenfassen will, dann kann man sagen, daß das Respektieren der wirtschaftlichen Freiheit eine Voraussetzung für ein dynamisches Wirtschaftswachstum ist. Nichts hindert Xi Jinping daran, ebenfalls ein gutes ökonomisches Umfeld zu schaffen.

Xis Vorgänger, der Gründer der Volksrepublik, Mao Zedong (1893–1976), mißachtete die wirtschaftliche Freiheit. Die Kommunisten enteigneten seinerzeit Unternehmer und Bauern. Der Zusammenschluß mehrerer LPGs samt zigtausender Mitglieder zu Volkskommunen ließ beim großen Sprung nach vorn (1959–1962) nicht mehr Bauern, sondern Partei-Kader bestimmten, was wann wo angebaut wurde. Märkte und Knappheitspreise gab es nicht mehr. Die Arbeitsanreize waren schlecht, weil der Lebensstandard nicht mehr von der eigenen oder der Familienleistung abhing, sondern von der Führung der Kommune und deren Erfolg, auch von den Beziehungen des Familienoberhaupts zur Leitung der Kommune.

Zeit wurde zudem mit ideologischer Schulung vertan. Die Einsichten von Smith zum Arbeitsanreiz durch Eigentum, von Mises zur Notwendigkeit von Privatbesitz an Produktionskapital, von Hayek zu dezentralen Entscheidungen zwecks Nutzung des fragmentierten Wissens und von Schumpeter zum privaten Unternehmertum wurden nicht beachtet. Mehr als sechs Prozent der damaligen chinesischen Bevölkerung sind durch Hunger umgekommen.

Xi Jinping muß sich nicht an Mao orientieren. Er könnte sich auch Deng Xiaoping zum Vorbild nehmen, den Architekten des wirtschaftlichen Aufstiegs Chinas seit Ende der 1979er Jahre.

Die Obrigkeit duldete das Entstehen des Verantwortungssystems: Bauern verteilten das Ackerland der Volkskommunen an Familien. Sie wirtschafteten selbständig und konnten so ihr implizites Wissen nutzen, mußten aber vereinbarte Mengen an Feldfrüchten zu festgesetzten Preisen abliefern. Überschüsse durften sie auf Märkten verkaufen, was die Arbeitsanreize verbesserte. Das war der Anfang der Preisfreigabe. Die Agrarproduktion und das bäuerliche Einkommen stiegen rasch. Der nächste Schritt war die Entstehung von Privatbetrieben auch außerhalb der Landwirtschaft. Die unternehmerische Privatwirtschaft, Wettbewerb und Knappheitspreise wurden schrittweise eingeführt.

Dabei spielte der Wettbewerb der herrschenden Kader in den Gemeinden, Städten und Provinzen eine wichtige Rolle. Diese lokalen und regionalen Parteimänner hatten in Wirtschaftsfragen Entscheidungsspielraum und den Anreiz, diesen zu nutzen. Die Karrierechancen von Kadern besserten sich mit dem ökonomischen Wachstum ihrer Region. So bekamen kommunistische Funktionäre ein Interesse daran, die privaten Eigentums- und Verfügungsrechte von Unternehmern zu achten und freie Preise zu dulden. De jure wurde Privateigentum an Produktionskapital erst Anfang des 21. Jahrhunderts anerkannt, bäuerlicher Landbesitz ist bis heute in China unsicher.

In Anbetracht der Unsicherheit von Eigentumsrechten in China, der latent immer vorhandenen Bedrohung der unternehmerischen Freiheit durch die Kommunistische Partei, kann man die unvergleichliche Wirtschaftsentwicklung und die Befreiung von ca. 800 Millionen Menschen aus bitterer Armut als ein Wunder bezeichnen.

Dazu beigetragen haben auch die Vorteile der Rückständigkeit. Chinas Möglichkeit, vom Ausland Technologien und Organisationsmodelle zu übernehmen, von dort Ideen, unternehmerisches Talent (darunter auch erfolgreiche Auslandschinesen) und Investitionskapital anzuziehen, in reicheren Ländern aufnahmefähige Märkte zu finden, beruhten auf der größeren wirtschaftlichen Freiheit anderswo. Die Chinesen nutzen diese Chance durch Disziplin, Fleiß und ihr großes Humankapital.

Wer davon überzeugt ist, daß Smith, Mises, Hayek und Schumpeter wesentliche Voraussetzungen für Wohlstand und Wachstum identifiziert haben, muß Chinas Wachstumsaussichten skeptisch beurteilen. Nicht weil Xi Jinping ein Autokrat ist. Sondern weil seine Politik bisher eine Zentralisierung ökonomischer Entscheidungen begünstigt. Erstens hat die Kommunistische Partei die Industriepolitik im Land nie aufgegeben; Eingriffe nehmen eher wieder zu. Zweitens hatten es Staatsbetriebe immer leichter als Privatbetriebe, an Kredite zur Finanzierung von Investitionen zu kommen. Die tendenziell größere Innovativität und Produktivität privater Unternehmen nutzt das Reich der Mitte nicht voll aus. Drittens will Peking künftig stärker an unternehmerischen Entscheidungen beteiligt sein, wie das Wachstum der betrieblichen Parteiorganisationen zeigt. Je mehr die Parteizellen sich in die Unternehmensführung privater Betriebe einmischen, desto mehr wird Privatbesitz von Unternehmen zur leeren Hülle.

Bisher ist Xi Jinping kein Förderer der unternehmerischen Freiheit gewesen. Chinas künftiges Wachstum könnte darunter leiden. Denkbar ist auch, daß die hier hervorgehobenen Protagonisten wirtschaftlicher Freiheit deren instrumentellen Wert für das Wachstum überschätzten, und daß wir von Xi Jinping und China lernen müssen, daß der Preis von Freiheitsdefiziten gering ist. Ich glaube das allerdings nicht.






Prof. Dr. Erich Weede, Jahrgang 1942, ist Sozial- und Politikwissenschaftler und hat in Mannheim, Köln und Bonn sowie in den USA gelehrt.