© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/23 / 03. Februar 2023

Über die profane Welt hinaus
Ästhetisches Revoluzzertum: Zu Wolfgang Ullrichs Essay „Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie“
Thorsten Hinz

Der Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich, Jahrgang 1967, gehört zu den interessanten Vertretern seines Fachs. Die JUNGE FREIHEIT wurde schon vor 25 Jahren auf ihn aufmerksam und würdigte seine erste Veröffentlichung – ein schmales Buch über Uta von Naumburg – als eine „brillante Studie“. (JF 21/98). In seinem neuesten, mittlerweile 14. Buch führt Ullrich den Leser durch den modernen Kunst- und Kulturbetrieb. Wieder sind seine Erläuterungen und Thesen erhellend und informativ; seine Schlußfolgerungen – soviel vorweg – muß man trotzdem nicht teilen.

Die Hauptthese ist bereits im Titel enthalten: „Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie“. Die Idee der Kunstautonomie, die mehr als 200 Jahre bestimmend gewesen war, besagt, daß die Kunst einen gesonderten Bezirk mit eigenen Gesetzen bildet. Politische, gesellschaftliche, soziale und andere Probleme, die Realien dieser Welt, bilden nur das Material, das in einem ästhetischen Zweck aufgeht. Er besteht letztlich darin, den Betrachter, Hörer, Zuschauer, Leser über die profane Welt hinauszuheben und ihm vertiefte Einsichten und die Ahnung eines größeren, transzendenten Zusammenhangs zu vermitteln. Philosophische Antipoden wie Heideg-ger und Adorno waren sich darin einig.

Im Widerstreit zwischen Stoff- und Formbetrieb

Dieser Kunstbegriff wurzelt im deutschen Idealismus. Nach Schiller bewegt der Mensch sich im Widerstreit zwischen dem Stoff- oder Sachtrieb und dem Formtrieb. Der Stofftrieb verweist ihn auf sein sinnliches Dasein, auf die materielle Gebundenheit, auf seine Existenz in der Zeit, der Formtrieb hingegen auf die geistige, moralische und transzendente Dimension. „Jeder individuelle Mensch (…) trägt der Anlage und Bestimmung nach einen reinen idealistischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechslungen übereinzustimmen die große Aufgabe seines Daseins ist.“ Stoff- und Formtrieb finden im Spieltrieb zusammen, der sich im Kunstwerk objektiviert und manifestiert. Indem der Rezipient sich in das Kunsterlebnis versenkt, veredelt er sich momentweise zu einem ästhetischen und ganzheitlichen Wesen und wird einer quasi-sakralen Erfahrung teilhaftig.

Dieses Kunstkonzept sei ein historisch kurzfristiger, elitärer und westlicher Sonderfall, der ihm heute „fremd und wie aus der Vergangenheit“ vorkomme, schreibt Ullrich. Den Kunstbegriff sieht er durch die reale Entwicklung drastisch verändert und erweitert. Kunst reflektiere heute eine „postautonome Gegenwart“, die er von Massenkultur, Mechanisierung, Demokratisierung, Globalisierung und Kommerzialisierung gekennzeichnet sieht. Im Zeichen der Popart können auch Schuhe, Taschen, Verpackungskartons in die Erhabenheit der Kunstliga aufsteigen. Ullrich meint ein „Verantwortungsdesign“ zu erkennen, das gesellschaftspolitische Anliegen transportiert: Diversität, Antirassismus, ökologische, soziale und zivilgesellschaftliche Standards. Auch sogenannte „Art-“ bzw „Designer-Toys“ – originell gestylte, limitierte Skulpturen, oft knuffig-luxuriöse Zwischendinge aus Spielzeug und Nippes – rechnet er zur neuen Kunst.

Zudem habe sich die Kommunikation geändert und wirke auf die Kunstrezeption zurück. Künstler legten es zunehmend darauf an, im Internet eine Fangemeinde zu rekrutieren. Ullrich erläutert das am Beispiel des britischen Aktionskünstlers, Bildhauers und Malers Damien Hirst, der nicht nur Einblicke in sein Atelier gewährt, sondern auch mit den Followern in Interaktion tritt, auf ihre Anregungen und Wünsche reagiert, also Konsumwünsche erfüllt. 

Die europäischen Museen, die lange als Tempel der Kunstautonomie gedient hätten und einem kunstgeschichtlichen Kanon gefolgt seien, stellten ihre Exponate jetzt in globale Kontexte und hätten begonnen, „zusätzlich nach gesellschaftspolitischen und moralischen Kriterien (zu) entscheiden, was gezeigt wird und wie es gezeigt wird“. In den USA würden bereits Werke vermeintlich überrepräsentierter Künstler verkauft, um die Werke bislang ignorierter, auch diskriminierter Künstler zu erwerben. Wer an der Idee der Kunstautonomie festhielte, hätte es hingegen immer schwerer, Ausstellungsorte und Galerien zu finden, die ihn vertreten. 

Ullrich sieht durchaus die problematische Seite der Entwicklung. Die „zusätzlichen“, das heißt die außerkünstlerischen Kriterien drohen die künstlerischen zu überwuchern. Das Mißlingen einer postautonomen Kunst, die sich als Sprachrohr kurzfristiger Interessen betätigt, zeigt der Autor am Beispiel des chinesischen Aktionskünstlers Ai Weiwei auf, der mit Installationen von Rettungsringen und Schlauchbooten im öffentlichen Raum die sogenannte Seenotrettung im Mittelmeer propagierte.

Für gelungen hält der Autor hingegen das Musikvideo zweier schwarzer Pop-Ikonen. Die Sängerin Beyoncé und ihr Ehemann, der Rapper Jay-Z, präsentieren sich gemeinsam mit schwarzen Tänzern im Pariser Louvre. Vor der Mona Lisa und der Nike von Samothrake wechseln „Szenen teils anklagenden Charakters (...) sich mit Szenen ab, die von großem Selbstbewußtsein zeugen“. Ullrich meint, die beiden würden sich „demonstrativ auf Augenhöhe mit dem westlichen Kanon“ bewegen und zitiert eine Kollegin, die sogar von einem „Bündnis der Ikonen“ spricht.

Nun, eine demonstrative Geste markiert einen Anspruch und soll etwas beweisen, doch ein Beweis ist sie noch nicht. Anders als Ullrich behauptet, bleibt die Hierarchie gewahrt, denn der Image-Transfer vollzieht sich einseitig. Schließlich verzaubert das sphinxhafte Lächeln der Mona Lisa die Welt seit 600 Jahren, während die Beyoncés und Jay-Zs kommen und gehen. Ob sie in sechs Jahren noch eine Rolle spielen, weiß der Himmel. Nebenbei: Was die beiden vollziehen, ist die kulturelle Aneignung einer „weißen“ durch eine „schwarze“ Kultur. Dagegen ist überhaupt nichts zu sagen, nur daß der umgekehrte Vorgang umgehend skandalisiert werden würde. Es ist schade, daß Ullrich diesen Widerspruch nicht ausleuchtet.

Bei aller Parteinahme für die postautonome Kunst scheint dem Autor der Prozeß, den er die „Rückabwicklung der Moderne“ nennt, selber nicht ganz geheuer zu sein. Daher zieht er zur Beglaubigung der „Autonomie-Kritiker“ ausgerechnet den konservativen Kunsthistoriker Hans Sedlmayr, den Verfasser von „Der Verlust der Mitte“, heran. Das ist demagogisch, denn Ullrich macht keinen Unterschied zwischen der autonomen Kunst im Sinne Schillers und dem modernen Künstler, der seine künstlerische Freiheit nutzt, um an die Stelle des idealistischen Formtriebs eine fixe Idee – etwa eine politische Ideologie – zu setzen und eine Kunst zu kreieren, die sich nach Sedlmayr ganz „in der Zeitlichkeit“ – also im Stofftrieb – erschöpft. Kunst sollte nach der Vorstellung Sedlmayrs eine „Epiphanie des Zeitfreien, Ewigen in der Brechung der Zeit (sein). Die Leugnung dieses Ewigen ist essentiell auch Leugnung der Kunst“ und verbanne den Leugner ins „Gefängnis der Zeit“.

Ob Gefälligkeitskunst ihre Zeit überlebt, ist zweifelhaft

Den Leser beschleicht der Eindruck, daß bei Ullrichs Versuch, aus veränderten Zeitläuften normative Vorgaben und eine neue Ästhetik abzuleiten, auch politische und persönliche Motive eine Rolle spielten. In seinem 2020 veröffentlichten Buch „Feindbild werden“, in dem er seinen Konflikt mit dem Leipziger Maler Neo Rauch ausbreitet, qualifiziert er die Kunstautonomie als eine „reaktionäre Instanz“ ab, auf die sich bevorzugt rechtslastige Künstler und Kritiker berufen würden. 

Ullrich hat ja recht mit der Feststellung, daß geschichtlich gesehen die Künstler die längste Zeit subjektiv und institutionell in einen religiösen Kosmos eingebettet waren und keine Autonomie kannten. Zu vermerken ist aber auch, daß die Aufsprengung dieses Rahmens der Wirkung ihrer Werke nicht geschadet hat. Gewiß sind Bibelkenntnisse vor den Heiligenbildern eines El Greco eine wichtige Interpretationshilfe, doch sie sind keine notwendige Voraussetzung, um anhand der Gemälde zu verstehen, was mit der Einheit aus Stoff- und Formtrieb gemeint ist. Die Figuren sind einerseits körperlich greifbar – eben stofflich –, gleichzeitig scheinen sie in ihrer Überdehnung aus dem Irdischen in eine höhere Dimension, in eine Dimension der idealistischen Reinheit und Transzendenz zu entfleuchen. Ob eine politisch, zivilgesellschaftlich oder anderweitig inspirierte Konjunktur- und massenkompatible Gefälligkeitskunst ihre jeweiligen Moden überlebt, ist zumindest zweifelhaft.

„Postautonome Artefakte“ stellten den „westlich-moderne(n) Werkbegriff“ in Frage, schreibt der Autor. An ihre Stelle trete eine „neue Dingkultur“, die „Absolutheit“ und „Reinheit“ durch „Mischungen, Verbindungen, Kooperationen“ ersetzt. Geht es nicht eine Nummer kleiner? Genügt es nicht, eine Ausdifferenzierung zu konstatieren, statt eine Revolution zu proklamieren? Im Grunde propagiert der Kunst-Revoluzzer einen totalen, aus Politischer Korrektheit, Massengeschmack und Marktwert bestehenden Stofftrieb, der zu ästhetischer Beliebigkeit führt.

In der Mediathek des Senders Arte ist gerade eine dreiteilige Serie über Museen auf dem afrikanischen Kontinent abrufbar. Afrikanische Künstler, Kuratoren und Kulturpolitiker äußern sich hier, wie wichtig es für die Afrikaner sei, sich von den Zu- und Überschreibungen der europäischen Kolonisatoren zu befreien und ihre kulturellen Wurzeln wiederzuentdecken. Die Direktorin des Museeums Mocaa in Kapstadt, Koyo Kouoh, sagte, es gehe nicht darum, Brücken zwischen Afrika und Europa zu bauen, sondern die eigene – die afrikanische – Geschichte zu erzählen und zurückzuerobern.

Wer wollte ihr widersprechen? Andererseits: Sollen wir deshalb die eigene, die europäische Lesart und Tradition aufgeben, demütig Fremdzuschreibungen akzeptieren, die Kunstproduktion unter den Oktroy von Rassismus-, Kolonial- und Schulddiskursen stellen und die Politik- und Medienödnis damit künstlerisch verdoppeln?

Es gibt im globalen Maßstab einen künstlerischen Pluralismus, der zu neuen Modifikationen, Kombinationen und Synthesen führt, in dem man das Eigene aber auch behaupten muß. Statt einen ästhetischen Paradigmenwechsel zu beschwören, kann man dann eben von „Kunst I“, „Kunst II“ und so weiter sprechen.

Wolfgang Ullrich: Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2022, broschiert, 188 Seiten, 40 teils farbige Abbildungen, 22 Euro