Das Märchen „Die Kristallkugel“ gehört zu den weniger bekannten aus der Grimmschen Sammlung. Aber die Art und Weise, in der dort von der Wirkung eines solchen Wunderdings erzählt wird – es hilft eine verhexte Prinzessin zu erlösen –, ist typisch für die Vorstellungen, die sich traditionell mit dem Bergkristall verbinden. Eine Kristallkugel, eigentlich nur noch bekannt als Utensil auf Jahrmärkten, beschließt die Ausstellung „Magie Bergkristall“ im Kölner Museum Schnütgen. Sie eröffnet mit einem gigantischen, in Arkansas am Berg Ida abgebauten Stück. Für die Faszination, die Bergkristall auf den Betrachter ausübt, ist unerheblich, daß es sich im Grunde nur um Quarz handelt, härter als Glas, kaum weicher als ein Diamant. Anziehungskraft üben seit je die Klarheit und die Brillanz aus.
Die Griechen bezeichneten als „krystallos“ Eis wie Bergkristall gleichermaßen. Das Mineral kommt weltweit vor, in Europa allerdings nur in Hochgebirgslagen. Das „Schürfen“ durch die „Strahler“ war deshalb außerordentlich gefahrvoll. Einer Herausforderung anderer Art sahen sich diejenigen gegenüber, die die Funde verarbeiteten. Denn aufgrund seiner Beschaffenheit kann man Bergkristall weder schnitzen noch mit dem Meißel bearbeiten, nur vorsichtig abschlagen oder schleifen, um es in die gewünschte Form zu bringen, ohne es zu zerbrechen.
Kristalle dienten zur Abwehr übelwollender zauberischer Kräfte
Soweit faßbar, wurden Bergkristalle schon seit vorgeschichtlicher Zeit gesucht und verwendet. Sie dienten als Schmuck, aber auch zur Abwehr übelwollender zauberischer Kräfte. Wie zäh solche Vorstellungen sich erhalten haben, wird in Köln anhand eines Gürtels aus Kastilien deutlich gemacht. Dessen älteste Teile hat man im 10. Jahrhundert angebracht, und bis zum 19. Jahrhundert gab man das Stück von Generation zu Generation weiter. Dabei ging von dem Gürtel selbst, der den Leib wie ein Ring umschloß, aber vor allem von dem Behang – darunter mittig ein kristallener Totenschädel – Schutz für den Träger aus.
Entsprechende Vorstellungen dürften auch mit vielen antiken Bergkristallen verbunden gewesen sein. Hier traten aber stärker dekorative Absichten in den Vordergrund. Die in Köln gezeigten glasklaren römischen Löwenköpfe dienten jedenfalls in erster Linie der Repräsentation und stellten außerdem einen erheblichen materiellen Wert dar. Den Quellen ist zu entnehmen, daß Gefäße aus Bergkristall nicht nur wegen ihrer kühlenden Wirkung, sondern auch wegen ihres luxuriösen Charakters in vornehmen Kreisen sehr geschätzt wurden.
Die Kristallverarbeitung ging wie so viele Kulturtechniken am Ende der Antike verloren. Im Mittelalter waren deshalb aus Kristall gefertigte Behältnisse arabischer Herkunft sehr begehrt, die man – ohne Rücksicht auf ihre Herkunft aus dem islamischen Raum – auch zu Reliquienträgern verarbeitete. Gleichzeitig verwendete man Stücke hellenistischer oder römischer Herkunft weiter. Auf welchem Weg die alten Verfahren im Abendland wieder- oder neuentdeckt wurden, ist bis heute ungeklärt. Fest steht allerdings, daß Bergkristall schon in der Zeit der Merowinger und Karolinger als außerordentlich kostbar galt und deshalb nicht nur an Amtszeichen, sondern auch an sakralen Gegenständen vielfach Verwendung fand. Das „heilige Köln“ wurde nicht zufällig seit dem 12. Jahrhunderte zum Zentrum der Bergkristallbearbeitung, wie man in der Ausstellung an außergewöhnlichen Exponaten – etwa dem Maurinus-Schrein – erkennen kann.
Auch dabei ging es nicht nur um den materiellen, sondern in erster Linie um den symbolischen Wert des Bergkristalls. Manche mittelalterlichen Texte sprachen davon, daß in seinem Inneren Engel wohnten. Bedeutsam war in jedem Fall die Verknüpfung mit der für die Gotik so wichtigen Theologie des Lichts. Das in der Ausstellung gezeigte Hildesheimer Scheibenkreuz, besetzt mit zahlreichen Kristallen verschiedener Größe, ist dafür ein ausgezeichneter Beleg. Hier trat der praktische Nutzen ganz zurück, im Gegensatz zu jenen konvex geschliffenen Bergkristallen, die seit dem letzten vorchristlichen Jahrtausend als Lupen verwendet werden konnten. Wahrscheinlich dienten sie dazu, Feuer zu entfachen, aber seit dem Mittelalter gab es auch sogenannte „Lesesteine“, um Vergrößerungen von Schrift oder Bildern zu erzielen. Eine erhebliche Zahl solcher Stücke hat man auf der Insel Gotland geborgen. Doch bleibt hier ein ungeklärter Rest bei der Deutung: Handelte es sich nur um Hilfsmittel oder wurden die Bergkristalle als Besatz auf der Kleidung getragen, um einerseits zu imponieren, andererseits den Bösen Blick abzuwehren?
Die Ausstellung „Magie Bergkristall“ wird bis zum 19. März 2023 im Kölner Museum Schnütgen, Cäcilienstraße 29-33, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, donnerstags bis 20 Uhr, gezeigt. Der umfangreiche Katalog (448 Seiten, ca. 385 Abbildungen) kostet im Museum 44 Euro.