© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/23 / 03. Februar 2023

„Eine Sackgasse in unseren Beziehungen“
Abrüstung: Das New-Start-Abkommen zwischen den USA und Rußland stand schon vor dem Ukraine-Krieg auf der Kippe
Marc Zoellner

Als Annalena Baerbock am 24. Januar mit Blick auf Kritik von europäischen Verbündeten energisch erklärte, „wir kämpfen einen Krieg gegen Rußland und nicht gegeneinander“, da reagierte das Moskauer Außenministerium nachsichtig. Schließlich hatte die deutsche Außenamtschefin dies nicht einem russischen Vertreter direkt ins Gesicht gesagt – Rußland hatte die Organisation bereits am 15. März nach 26jähriger Mitgliedschaft verlassen. Bei einem großen UN- oder G20-Treffen wären solche Äußerungen wohl nicht so folgenlos geblieben.

Droht nun ein erneutes nukleares Wettrüsten?

Denn bei den wirklich großen Themen kennen russische Diplomaten keine Nachsicht. So sehen sie keine Zukunft für eine Fortführung des Abkommens zur Verringerung der strategischen Waffen (Start-Verträge) mit den USA. Es sei ein „sehr wahrscheinliches Szenario“, bekundete Vizeaußenminister Sergei Rjabkow im Interview mit der Nachrichtenagentur RIA Novosti auf die Frage, ob es „nach 2026 keinen Rüstungskontrollvertrag mit den Amerikanern geben“ werde. „Die Sackgasse in unseren Beziehungen“, so Rjabkow, „wird durch die antirussische Politik Washingtons verursacht, die in den letzten Jahren Jahr für Jahr und Monat für Monat härter geworden ist.“ Insbesondere die militärische Unterstützung der Ukraine durch die USA und die Nato ziele „darauf ab, unseren historischen und kulturellen Code zu zerstören“.

Im Juli 1991 von US-Präsident George Bush und seinem sowjetischen Amtskollegen Michail Gorbatschow unterzeichnet, hatte das zwischenzeitlich als „New Start“ fortgeführte bilaterale Abkommen Amerikaner und Russen verpflichtet, die Anzahl ihrer Atomsprengköpfe auf 1.550 sowie jene der Trägerraketen auf 800 Stück zu beschränken. Zwar hatten sich Joe Biden und Wladimir Putin noch im Januar 2021 auf eine Fortführung des Abkommens bis zum 4. Februar 2026 einigen können. Die Umsetzung der Vereinbarungen verlief der in Folge allerdings, von beiden Seiten forciert, mehr als prekär. So lehnte Moskau mehrfach eine Entsendung seiner eigenen Inspektoren in die USA mit Verweis auf die grassierende Corona-Pandemie ab.

Als Washington nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine Aeroflot, Rossija & Co. sanktionierte, sah der Kreml keine Einreisemöglichkeiten für seine Kontrolleure in die USA mehr – und verwehrte deshalb auch den US-Beamten die Einreise nach Rußland. Zuletzt, im November 2022, einigten sich die beiden Kontrahenten auf eine neue Verhandlungsrunde in Kairo zur Klärung der Überwachungsmodalitäten auf neutralem Boden. Die angereisten US-Diplomaten warteten jedoch vergebens – in letzter Minute hatte Rußland seine Teilnahme abgesagt. „Einen neuen Termin zu finden erlaubt die Situation offen gesagt nicht“, ließ sich Rjabkow vergangene Woche von der Nachrichtenagentur Interfax zitieren, „wenn man diese Eskalationstendenz sowohl in der Rhetorik als auch in den Aktionen der Vereinigten Staaten berücksichtigt.“

Dabei kommt der Abbruch der Verhandlungen für Washington nicht nur aufgrund der jüngsten Drohungen russischer Politiker, in der Ukraine auch den Einsatz taktischer Atomwaffen zu erwägen, zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. „Rußlands Weigerung, die Inspektionen zum New Start wiederaufzunehmen“, mahnten unlängst mehrere hochrangige republikanische US-Abgeordnete in einem Schreiben an Biden, „geschieht zu dem einzigartig gefährlichen Zeitpunkt, da Rußland und China ihre Arsenale ausweiten und modernisieren, der Iran, ein staatlicher Sponsor des Terrorismus, sein Nuklearprogramm erweitert und Nordkorea mit dem nuklearen Säbel rasselt.“

Daß Rußland gewillt ist, in der Ukraine Atomwaffen einzusetzen, wird von Nato-Experten zwar bezweifelt. Rußland versuche jedoch, das Abkommen zu benutzen, „um die USA und andere Nationen davon abzubringen, der Ukraine Hilfe zukommen zu lassen“, mahnte Mike Rogers, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses des US-Senats, im Interview mit der Financial Times. „Weder die USA noch die Nato dürfen sich erpressen lassen. Schritt eins hat zu sein, diese Verletzungen des Abkommens auch laut zu benennen.“ 

Angesichts des Vorhabens Chinas, sein eigenes Arsenal in der kommenden Dekade auf 1.500 Sprengköpfe aufzurüsten, will Washington ein erneutes nukleares Wettrüsten mit Moskau wie zu Zeiten des Kalten Krieges unbedingt vermeiden. Ansonsten würden den USA, wie das Pentagon in einer Analyse betonte, „zum ersten Mal drohen, gleich zwei große Atommächte abschrecken zu müssen“.

Foto: Russische Soldaten stehen vor den  Interkontinental-raketen Yars: Seit 2022 treibt Rußland sein nukleares Modernisierungs-programm voran