© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/23 / 03. Februar 2023

Magere Mandate
Wahlrechtsreform: Der Bundestag muß schrumpfen, darin sind sich alle einig – die Streitfrage ist nur: wie?
Jörg Kürschner

Verkehrte Welt. Meist steht die AfD im Bundestag wegen aggressiver Polemik am politischen Pranger der anderen Parteien. Doch bei der geplanten Verkleinerung des Bundestags ist es die Union, die der Ampel-Koalition Putsch-Absichten unterstellt, ihr „organisierte Wahlfälschung“ vorwirft. Die AfD hält ihr „geistigen Diebstahl“ vor, will aber mit dem Dreier-Bündnis stimmen. Dieses freilich ignoriert die unerbetene Hilfe.

Warum legt der Ampel-Entwurf die „Axt an die Grundlage der Demokratie“, wie CSU-Bundestagsabgeordnete poltern? Und deren Generalsekretär Martin Huber setzte noch einen drauf. „Direkt gewählten Abgeordneten den Einzug ins Parlament zu verweigern, kennen wir sonst nur aus Schurkenstaaten.“  

Und damit ist die Schwachstelle des Koalitionsantrags markiert. Der Gesetzentwurf bricht mit althergebrachten Grundsätzen des Wahlrechts. Seit der ersten Wahl 1949 gilt, daß der Kandidat mit den meisten Stimmen im Wahlkreis das Mandat für den Bundestag gewinnt. Franz Handlos, späterer Gründer der heute bedeutungslosen Republikaner, holte 1983 für die CSU mit sensationellen 73,6 Prozent der Erststimmen seinen Wahlkreis Deggendorf. Das waren noch Zeiten. Heute sind Direktmandate „billiger“ zu haben. Bei der vergangenen Bundestagswahl 2021 genügten dem Dresdner CDU-Bewerber Lars Rohwer schmale 18,6 Prozent. Direktmandate, so die Argumente der Ampel, hätten im Laufe der Jahrzehnte an Legitimation verloren, da sie oft nur ein Viertel der Wähler repräsentierten. 

Künftig soll ein Wahlkreissieger nur dann in den Bundestag einziehen, wenn das Mandat der Partei auch nach dem Ergebnis der Zweitstimme zusteht. So soll verhindert werden, daß der Bundestag immer weiter wächst. Derzeit sitzen 736 Abgeordnete im Hohen Haus, die Ampel will deren Zahl auf die im Bundeswahlgesetz normierten 598 begrenzen. Das ist aus Sicht der Koalition nur möglich, wenn keine Überhangmandate mehr entstehen. Das ist der Fall, wenn mehr Wahlkreisbewerber einer Partei  direkt gewählt werden, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Bisher werden diese Mandate mit dem Ziel ausgeglichen, die Zusammensetzung des Bundestages entsprechend dem Zweitstimmenergebnis abzubilden. Bei der vergangenen Wahl kam es zu 34 Überhang- und 104 Ausgleichsmandaten.

Denn das deutsche Wahlrecht ist eine komplizierte Kombination aus personalisiertem Mehrheits- und Verhältniswahlrecht. Danach ist gewählt, wer die meisten Erststimmen im Wahlkreis erhält, nach dem Verhältniswahlrecht werden die Sitze nach dem Anteil der Zweitstimmen vergeben, die auf die Landeslisten der Parteien entfallen.

Nach dem Ampelkonzept würden die Überhang- und Ausgleichsmandate ersatzlos wegfallen. Die Zweitstimme, die künftig Hauptstimme heißen soll, würde aufgewertet, denn sie muß den Wahlkreissieger „abdecken“. Verhältniswahlrecht vor personalisiertem Mehrheitswahlrecht. Die Union hat schwere Bedenken, da Wahlkreise mangels Repräsentanten „verwaisen“ könnten. Wähler würden nicht einsehen, warum ein siegreicher Direktkandidat nicht in den Bundestag komme. Der SPD-Abgeordnete Erik von Malottki befürchtet Schwierigkeiten bei der Kandidatensuche, wenn die Aussicht eines siegreichen Direktkandidaten auf ein Mandat sinke.

Die CSU könnte auf parteilose Bewerber setzen

Die Empörung der CSU ist besonders groß, da sie 2021 in Bayern 45 von 46 Direktmandaten holte, aber bei den Zweitstimmen nur auf 34,1 Prozent kam. Ohne das Konstrukt der Überhang- und Ausgleichsmandate würde sie deutlich schrumpfen. Wahlrechtsexperten zufolge wären elf von den 45 Direktkandidaten ohne Fahrkarte nach Berlin geblieben.  Prominentester Verlierer wäre der frühere Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer gewesen, hätte der Ampel-Gesetzentwurf damals schon gegolten. Der CSU-Mann holte in Passau immerhin 30,7 Prozent. Betroffen von Mandatsverlusten wären in anderen Bundesländern aber auch Kandidaten von CDU, SPD und AfD. 

Um das Schlimmste abzuwenden, hat die Union vorgeschlagen, die 299 Wahlkreise auf 270 zu verringern und bis zu 15 Überhangmandate nicht auszugleichen. Besonders pikant. Die Union will die sogenannte Grundmandatsklausel von drei auf fünf Direktmandate erhöhen. Mit dieser Regelung wäre die Linke nicht mehr im Bundestag. Daß sie trotzdem 39 Abgeordnete ins Parlament schicken konnte, liegt an ihren drei direkt gewonnenen Direktmandaten in Berlin und Leipzig. Deshalb entfällt die Fünfprozenthürde, an der die Linke 2021 mit nur 4,9 Prozent gescheitert war. „Es kann doch nicht sein, die Linke einfach so aus dem Parlament zu katapultieren“, entrüstete sich der SPD-Innenpolitiker Sebastian Hartmann ebenso wie die Linke.

Und die AfD? Ihr Wahlrechtsexperte Albrecht Glaser signalisierte der Ampel Einverständnis, plädierte aber zusätzlich für die „offene Listenwahl“. „Es wird nämlich die Möglichkeit geschaffen, die Zweitstimme in bis zu drei Bewerberstimmen aufzuteilen und dadurch die von den Parteien vorgegebene Reihenfolge der Landeslisten zu verändern. Damit steigt der Einfluß des Elektorats auf die konkrete Zusammensetzung des Parlaments deutlich“, heißt es in dem Gesetzentwurf. Im Endergebnis wird aber bei der Abgabe mehrerer Voten nur eine Zweitstimme pro Wähler gezählt. Eine „demokratiebelebende Idee“ mit der Möglichkeit, weibliche Bewerber bevorzugt zu berücksichtigen, wird erläuternd hinzugefügt. Die AfD als Partei der Frauenförderer ...

Nach Ansicht von Verfassungsjuristen gilt es einen erheblichen Mangel am Koalitionsentwurf zu beseitigen. So könnte die CSU auf die Idee kommen, ihre an fehlenden Zweitstimmen scheiternden Direktkandidaten als Einzelbewerber ins Rennen zu schicken. Mit der Folge, daß diese ein Mandat erhielten. Denn das Wahlrecht darf parteilosen Einzelbewerbern eine Kandidatur nicht verwehren. In der ersten Lesung des Ampelentwurfs am vergangenen Freitag reagierten deren Vertreter zurückhaltend auf die Vorstellungen der Union, erklärten aber ihre grundsätzliche Bereitschaft zum Gespräch. 

Die Wahlrechtsreform soll noch vor Ostern im Bundestag beschlossen werden. Es reicht eine einfache Mehrheit. Gerechnet wird daher mit einer Klage der CDU/CSU-Fraktion und möglicherweise der bayerischen Staatsregierung vor dem Bundesverfassungsgericht.