© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 06/23 / 03. Februar 2023

Schon wieder
Todesopfer: Nach der Messerattacke eines vorbestraften Staatenlosen wird eine „Abschiebe-Offensive“ gefordert
Peter Möller

Plötzlich reden alle wieder über Abschiebungen. Nach dem Messerangriff eines staatenlosen Palästinensers in einem Regionalzug zwischen Hamburg und Kiel, bei dem in der vergangenen Woche eine 17jährige und ein 19jähriger getötet und fünf Personen verletzt worden waren, stellt sich nicht nur die an den Tatort im schleswig-holsteinischen Brokstedt gereiste Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) die Frage, „wie konnte es sein, daß ein solcher Täter noch hier im Land war“?

Der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Alexander Throm, ließ indes Zweifel daran erkennen, daß aus dieser Frage die richtigen Konsequenzen gezogen werden. „Seit über einem Jahr verspricht die Ampel ihre Rückführungsoffensive für Straftäter und Gefährder. Passiert ist nichts davon.“ Politische Beobachter erinnerten in diesem Zusammenhang allerdings an Faesers Amtsvorgänger Horst Seehofer (CSU), der in seiner Zeit als Bundesinnenminister von 2018 bis Ende 2021 mehrfach sogenannte Abschiebeoffensiven ausgerufen hatte – ohne daß ein zählbares Ergebnis dabei herauskam. Im Gegenteil: Wurden 2018 noch 23.617 ausreisepflichtige Ausländer aus Deutschland abgeschoben, waren es ein Jahr später nur noch 22.097. In den Jahren 2020 (10.800) und 2021 (11.982) brachen die Zahlen dann coronabedingt ein. Im vergangenen Jahr wurden 12.994 Ausländer außer Landes gebracht. Angesichts von Hunderttausenden ausreisepflichtigen Ausländern in Deutschland sind diese Zahlen verschwindend gering.

Daß sich an dieser Entwicklung in den kommenden Jahren etwas grundlegend ändern wird, glaubt im politischen Berlin kaum jemand, auch wenn die Bundesregierung mit dem früheren Integrationsminister von Nordrhein-Westfalen, Joachim Stamp (FDP), einen Sonderbeauftragten für Migration ernannt hat, dem öffentlichkeitswirksam die Bezeichnung „Rückführungsbeauftragter“ angeheftet wurde. Eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums dämpfte denn auch in der vergangenen Woche die Hoffnung auf schnelle Erfolge bei den Abschiebungen: „Das Thema der Rückführungen ist ein komplexes Thema“, sagte sie. Das dafür notwendige Zusammenspiel zahlreicher Behörden in Bund und Land sei Gegenstand permanenter Diskussion und Verbesserungen. Die Amoktaten der jüngeren Vergangenheit mit mehreren Toten und Verletzten seien für die Innenminister von Bund und Ländern Anlaß, „sich mit der Früherkennung von und mit dem Umgang mit Personen mit einem Risiko außerhalb der politisch motivierten Kriminalität näher zu befassen“, so die Ministeriumssprecherin am Freitag vergangener Woche.

„Absolute Sicherheit kann es leider nicht geben“

Nach dem neuerlichen Messerangriff eines Ausländers dürfte es für die Berliner Politik schwerer werden, das Thema Abschiebung wieder in der Versenkung verschwinden zu lassen. Dazu beitragen dürften Zahlen, die am Wochenende die Bild am Sonntag veröffentlicht hat. Demnach hat die Bundespolizei 2022 in Zügen und auf Bahnhöfen allein 14.155 Körperverletzungen registriert. Die Zahl der Messerangriffe verdoppelte sich dem Bericht zufolge gegenüber dem Vorjahr auf 336. In den Zügen (also ohne Bahnhöfe) zählte die Bundespolizei 82 Messerangriffe, 33 Angriffe mit Reizstoffen, 97 Übergriffe mit „sonstigen gefährlichen Werkzeugen“ und fünf Angriffe mit Waffengewalt, etwa Pistolen. Besonders brisant: Der Anteil der Ausländer unter den Tatverdächtigen bei schwerer Körperverletzung, Raub, Mord und Totschlag lag bei 55,5 Prozent, berichtete die Bild am Sonntag.

Angesichts dieser Zahlen versuchen vor allem Politiker der Ampelkoalition den Fokus der Diskussion von den ausländischen Tätern weg und hin zu einer allgemeinen Debatte über die Sicherheitslage zu verschieben. Vor allem der Ruf nach mehr Polizeipräsenz in Zügen und auf Bahnhöfen wird laut. Der innenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Manuel Höferlin, sagte der Welt, es sei überfällig, die Zahl der Beamten und deren Ausstattung zu verbessern, gerade an Brennpunkten. Der grüne Innenexperte Marcel Emmerich fordert, ein stärkeres Augenmerk auf die Personalsituation der Bundespolizei an den Bahnhöfen zu legen. „Es ist klar: An zentralen Orten muß die polizeiliche Präsenz sichergestellt sein.“ Doch Emmerich schränkt ein: „Absolute Sicherheit vor schweren Straftaten kann es leider nicht geben.“

Im Zusammenhang mit den Messermorden von Brokstedt müssen sich die politisch Verantwortlichen allerdings nun mit der Frage auseinandersetzen, warum der vielfach vorbestrafte 33 Jahre alte Täter auf freiem Fuß war. Erst im Januar 2022 hatte Ibrahim A. in einem Obdachlosenheim einen Mann mit einem Messer angegriffen und verletzt und wurde daraufhin zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Wenige Tage vor der Bluttat im Regionalzug kam er aus der Untersuchungshaft frei. Seine eigentliche Strafe hatte er da noch gar nicht angetreten, weil er Berufung gegen die Verurteilung eingelegt hatte.

Foto: Blumen und Kerzen zum Gedenken an die Opfer der Messerattacke von Brokstedt: Debatte weg vom Thema Einwanderung verschieben