Rußland gehört zwar geographisch zumindest teilweise zu Europa, aber nicht politisch und wirtschaftlich, da es weder eine vollentwickelte Marktwirtschaft noch eine funktionierende Demokratie, noch einen wirklichen Rechtsstaat besitzt. Daran wird sich, so die zentrale These des aktuellen Buches von Bruno Schönfelder, auch auf absehbare Zeit nichts ändern, weil Siedlungsstruktur und Wirtschaftsgeographie, die Rußland vom Zarenreich und der Sowjetunion geerbt hat, einer Weiterentwicklung im Wege stehen.
Der Ökonom Schönfelder hat die tieferliegenden sozialen und ökonomischen Faktoren herausgearbeitet, welche für die Diskrepanz zwischen und das Auseinanderdriften von Rußland und Europa verantwortlich sind. Er hält diese für wichtiger als die kulturellen und geschichtlichen Besonderheiten, auf die sonst immer verwiesen wird. Und auch die Person eines politischen Führers wie Putin ist weniger die Ursache als vielmehr die Folge dieser Verhältnisse.
Die Wurzel allen Übels sieht der Autor in der Größe des Landes und den seit der Zarenzeit anhaltenden Bemühungen, auch die entlegenen Landesteile zu besiedeln und zu industrialisieren. Das hat aufgrund der „horrenden Kosten, der Kälte und der Verkehrsfeindlichkeit der russischen Geographie“ zur Herausbildung von Strukturen geführt, die wirtschaftlich nicht lebensfähig, sondern auf eine dauerhafte Subventionierung angewiesen sind. Schönfelder ist ein guter Kenner der russischen Verhältnisse und es gelingt ihm, dem Leser ein anschauliches Bild derselben zu vermitteln. Die von den Subventionen abhängigen Wirtschaftssektoren und Bevölkerungsgruppen wurden im Lauf der Zeit politisch immer einflußreicher. Zu nennen sind hier vor allem die oft im Fernen Osten angesiedelten Rüstungsbetriebe, welche zusammen mit dem Militär eine wichtige Rolle in der russischen Politik spielen.
Schönfelder zeichnet diese Entwicklung seit der Zeit Stalins nach und legt dabei ein besonderes Augenmerk auf die Wirtschaftskrise in den 1980er Jahren und die Reformversuche in den 1990er Jahren. Konsequente marktwirtschaftliche Reformen wurden nur für eine kurze Zeit versucht. Letztlich mußten sie scheitern, weil sie über kurz oder lang zu einem Zusammenbruch der subventionierten Betriebe und damit zu einem Millionenheer an Arbeitslosen, aber auch zu einem Bedeutungsverlust des Militärs geführt hätten. Der Widerstand der Reformverlierer war einfach zu groß. Stattdessen blieb die wettbewerbsfeindliche „Rentenverteilungskette“ aus Sowjetzeiten im neuen Gewand erhalten. Weiterhin wurden die ökonomischen „Renten“, also vor allem die Gewinne aus dem Verkauf von Rohstoffen, nach Belieben der politischen Führung eingesetzt, um Subventionen an politisch einflußreiche Gruppen zu finanzieren.
Rückständigkeit in den meisten Sektoren der russischen Wirtschaft
Die langfristigen ökonomischen Folgen der unterlassenen Reformen machen sich in geringen Investitionen und der Rückständigkeit der meisten Sektoren der russischen Wirtschaft bemerkbar. Das führt insbesondere dazu, daß viele gerade der gutausgebildeten und ehrgeizigen Russen ihr Land verlassen, was sich in dem schlechten Platz niederschlägt, den Rußland in der internationalen Patentstatistik einnimmt: Mit 0,23 Prozent aller gewährten Patente liegt es weit hinter deutlich kleineren Ländern wie Dänemark oder Finnland. Durch den Rohstoffboom der 2000er Jahre konnte die Regierung Putins dennoch den Lebensstandard der Bevölkerung deutlich steigern und sich so politischen Rückhalt verschaffen. In dem Maße, in dem diese Strategie – nicht zuletzt aufgrund sinkender Rohstoffpreise – nicht mehr funktionierte, wandte sich die Regierung einer neuen Legitimationsgrundlage zu: dem Neoimperialismus, dessen Folgen wir gegenwärtig nur zu gut beobachten können.
Schönfelder sieht Rußland in einem Teufelskreis von Reformnotwendigkeit und Reformunfähigkeit gefangen. Ein Aufbrechen der verkrusteten Strukturen erhofft er sich ausgerechnet vom Klimawandel: Durch das Auftauen des Permafrostbodens würden früher oder später Infrastruktur, Wohngebäude und Industrieanlagen zerstört werden. Dadurch würden sich „zwei Drittel der Landfläche Rußlands (...) weitgehend entleeren“ – und so die Voraussetzungen für die Etablierung dauerhaft lebensfähiger und effizienter Siedlungs- und Wirtschaftsstrukturen geschaffen werden. „Damit wäre die Russische Krankheit zumindest zu einem beträchtlichen Teil geheilt.“
Ob man im Westen auf eine derartige Entwicklung hoffen sollte, erscheint allerdings mehr als fraglich. Auch sonst geben die Ausführungen Schönfelders wenig Anlaß zu Optimismus. Beispielsweise würde Handel nicht zu Wandel führen, sondern nur das Leben eigentlich nicht überlebensfähiger Strukturen verlängern. Es drängt sich die Schlußfolgerung auf, daß selbst ein Wechsel an der politischen Spitze allenfalls atmosphärische Verbesserungen, aber keine grundsätzlichen Änderungen der Verhältnisse bewirken könnten. Vielleicht ist der Autor hier etwas zu pessimistisch, hat doch das Beispiel Michail Gorbatschows gezeigt, daß ein Machtwechsel zu plötzlichen Umbrüchen führen kann, die man vorher kaum für möglich gehalten hätte – und die in Zukunft vielleicht auch die von Schönfelder beklagten Wirtschafts- und Siedlungsstrukturen umwälzen könnten.
Schönfelder hat zu Recht auf sehr wichtige und bislang leider vernachlässigte Faktoren in der Entwicklung Rußlands hingewiesen – obwohl er diese Faktoren mitunter etwas zu einseitig betont. In jedem Fall kann aus diesem Buch ein entschiedenes Plädoyer für eine illusionslose Realpolitik gegenüber Rußland abgeleitet werden. Eine moralische oder gar eine „feministische“ Außenpolitik ist vollkommen fehl am Platz.
Prof. Dr. Fritz Söllner lehrt Volkswirtschaftslehre an der Technischen Universität Ilmenau
Bruno Schönfelder: Der Fluch des Imperiums. Edition Europolis, Berlin 2022, broschiert, 152 Seiten, 15,90 Euro