© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/23 / 27. Januar 2023

Wie Demokratien sterben? Indem man sie „fördert“
Schlechte Verlierer
Dietmar Mehrens

Für viele US-Gelehrte ist Ex-US-Präsident Donald Trump immer noch die große Gefahr für die Demokratie, als die er die vier Jahre seiner Amtszeit lang inszeniert wurde. Linke Akademiker, vor allem Medienschaffende, hatten sich so lange in ihre eigenen Untergangsprophetien hineingesteigert, daß der ungeordnete Sturm von Trump-Anhängern auf das Kapitol im Januar 2021 zur Erfüllung einer selbst herbeihalluzinierten Verheißung wurde. Wenn man nur fest genug daran glaubt, daß eine Vogelscheuche ein lebender Mensch ist, reicht der kleinste Windstoß, um überzeugt zu sein: in ihren Gliedern steckt Leben. Hätte Donald Trump, der schlechte Verlierer, sich tatsächlich zum Machterhalt putschen wollen, hätte selbst er es sicher professioneller angestellt.

Die Anti-Trump-Literatur füllt ganze Regale. Allein der Watergate-Enthüller Bob Woodward von der Washington Post widmete dem Präsidenten der Skandale drei Bücher. Das jüngste, „Gefahr“ („Peril“), erschien Anfang 2022 auf deutsch. Ein Schelm, wer dabei an die Lizenz zum Gelddrucken denkt, die Trumps Präsidentschaft für eine Clique von Enthüllungspublizisten und Politliteraten bedeutet.

Dazu darf man wohl auch die beiden Harvard-Professoren Steven Levitsky und Daniel Ziblatt zählen. 2018, auf dem Höhepunkt der Trump-Ära, veröffentlichten sie ihr Gemeinschaftswerk „Wie Demokratien sterben“ („How Democracies Die“), das auch in Europa mit großem Wohlwollen aufgenommen wurde. Noch im selben Jahr erschien bei DVA die deutsche Übersetzung – nebst preiswerter Lizenzausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung. Der Spiegel griff die Thesen der Politikwissenschaftler auf, um in einer Titelgeschichte vor den Gefahren der AfD zu warnen – symptomatisch für die blinden Flecken auf der linken Netzhaut des Magazins. Denn eigentlich geht es in der lesenswerten Analyse von Levitsky und Ziblatt um den Umschwung von einer funktionierenden Demokratie in eine dysfunktionale, um die schleichende Machtergreifung von Autokraten. Um das zu schaffen, muß man naturgemäß erst mal in der Regierung sitzen. Ohnmächtige Oppositionsparteien stehen demzufolge eher auf der Seite der Guten, gelten ihnen doch die Maßnahmen, durch die Herrscher ihre Befugnisse über das ihnen durch demokratische Wahl erteilte Mandat hinaus zu erweitern trachten, als Repression.

Was als Warnung vor Trump gedacht war, wird für den deutschen Staatsbürger des Jahres 2023 zum Menetekel für die deutsche De-Demokratisierung durch die Regenbogen-Sekte, die sich nach dem Ende der Ära Kohl an den Schalthebeln der Macht installiert hat und aktuell mit dem Kabinett Scholz und einer bekennenden Antipluralistin als Innenministerin mit ihrem Republikumbau alarmierend weit fortgeschritten ist. 

Es lohnt sich also ein profunder Blick in das Werk der beiden Harvard-Politologen. Sie rekurrieren auf eine Reihe von Fallbeispielen, um ihre Thesen zum Sterben einer Demokratie zu untermauern. Hugo Chavez und Alberto Fujimori kommen in ihrem Buch vor, Hitler selbstverständlich, aber auch die noch amtierenden Regierungschefs Recep Tayyip Erdoğan und Viktor Orbán. Ihr Schlußkapitel nutzen die Autoren, um eine moderat-sozialistische politische Agenda als Heilmittel gegen Autokratie-Ambitionen zu empfehlen. In der Analyse sind Levitsky und Ziblatt stark, in ihren Schlußfolgerungen so naiv und blauäugig wie alle linken Überzeugungstäter. Autokraten sind für sie eo ipso rechts, auch wenn sie, wie Chavez, ihren Weg an die Macht sozialistisch verkleiden.

Daß sich auch die Bundesrepublik im Lichte ihrer Untersuchung plötzlich als ächzende Demokratie identifizieren läßt, ist gleichsam ein ungewolltes Nebenprodukt ihrer Autokratenschau. Besonders deutlich wird das am Fall James Comey und seinen augenfälligen Parallelen zu Deutschland. Der ehemalige FBI-Direktor geriet im Mai 2017 auch hierzulande in das Blickfeld einer wachgerüttelten Öffentlichkeit, weil er von Trump entlassen worden war. Levitsky/Ziblatt nennen dies einen Angriff auf einen der „Schiedsrichter“ der Demokratie. Trump habe „unabhängig handelnde Behörden zu bestrafen und zu säubern“ versucht. Seine Entfernung aus dem Amt erklärte Comey später mit seiner Weigerung, dem Präsidenten Vasallentreue zu geloben. Comey wollte keine Informationen unter den Teppich kehren, nur weil sie der Regierung nicht in den Kram passen. Die Parallelen zur Entlassung von Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen sind verblüffend: Das politisch unbequeme Beharren auf Fakten zu den sogenannten Chemnitzer „Hetzjagden“ und die selbstbewußte Kritik an Mißständen wurden ihm als mangelnde Loyalität gegenüber der Regierung ausgelegt – schon war der deutsche Comey sein Amt los und wurde durch einen Lakaien ersetzt.

Ein ganzes Kapitel widmen Levitsky/Ziblatt den „Leitplanken der Demokratie“. Sie sind überzeugt, daß es über den Verfassungstext hinaus, der jederzeit kreativen Exegeten zum Opfer fallen könne, auf ungeschriebene Gesetze und Konventionen ankomme, die alle politischen Akteure respektieren sollten. „Rote Linien“ würde das nicht nur der Bundeskanzler nenne. Wie Carl Schmitt in „Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff“ darlegte, gerät der politische Kampf außer Kontrolle, wird „diskriminierend“, sobald der Gegner als Haßobjekt, als illegitimer Verbrecher, erscheint, dem nicht mit Achtung, sondern mit Ächtung zu begegnen ist. An diesen Gedanken anknüpfend fordern auch Levitsky/Ziblatt, daß „tiefe Abneigung“ gegenüber dem politischen Gegner nicht dazu führen dürfe, ihm sein Existenzrecht abzuerkennen. Denn: „Ist die Norm der gegenseitigen Achtung schwach ausgeprägt, läßt sich die Demokratie nur schwer bewahren. Wer Rivalen als Bedrohung betrachtet, erwartet, daß er im Fall ihres Wahlsiegs einiges zu befürchten hat. Wenn man so denkt, liegt der Schluß nah, jedes Mittel sei recht, um den politischen Gegner zu stoppen.“ Die Folge: autoritäre Maßnahmen, die unter dem falschen Etikett einer Schutzfunktion legitime Gegenstandpunkte unterbinden.

Das führt unmittelbar zur zweiten Leitplanke, die die Autoren für demokratiewesentlich halten und die sie „institutionelle Zurückhaltung“ nennen. Gemeint ist damit eine demokratische Kultur des freiwilligen Verzichts. Bis 1951 gehörte es zum guten Ton, als US-Präsident auf eine dritte Amtszeit zu verzichten. Dennoch folgten bis 1940 alle Präsidenten dem Vorbild George Washingtons. Erst Franklin D. Roosevelt brach durch seine rechtlich zulässige dritte Amtsperiode mit der Tradition und sorgte dafür, daß die Begrenzung Gesetz wurde. Institutionelle Zurückhaltung ist also so etwas wie eine vertrauensbildende Maßnahme für die Demokratie. Einen Verstoß gegen dieses Prinzip erkennten die US-Demokraten in dem Erlaß eines Wähleridentifikationsgesetzes, das in 37 republikanisch regierten Bundesstaaten eingeführt wurde und es sozial schwächer gestellten Wählern erschwert, zur Wahl zu gehen – ein durchschaubarer Versuch ihres politischen Kontrahenten, Wählergruppen, die den Demokraten zuneigen, von der Urne fernzuhalten. Dem Prinzip der allgemeinen, gleichen und geheimen Wahl dient dieses Gesetz gewiß nicht. Ein drittes Beispiel für ignorierte institutionelle Zurückhaltung stellt der Filibuster dar. Ein einzig mit dem Ziel, die Verabschiedung eines ungeliebten Gesetzes hinauszuzögern, endlos in die Länge gezogener parlamentarischer Redebeitrag.

Donald Trump bescheinigen Levitsky/Ziblatt einen beispiellosen Bruch mit den Prinzipien des Respekts vor dem Gegner und der institutionellen Zurückhaltung. Sie kreiden ihm eine Reihe von Begnadigungen politischer Günstlinge wie z.B. des Sheriffs Joe Arpaio an, der sich geweigert hatte, in seinem Amtsbezirk Antirassismusmaßnahmen zu vollziehen. Die Autoren vermögen darin wenig mehr zu erkennen als den Wunsch, einen verhaßten Gegner maximal zu provozieren. Ein Bruch mit dem Prinzip der institutionellen Zurückhaltung ist freilich auch das Durchpeitschen eines Amtsenthebungsverfahrens, dessen Erfolglosigkeit von vornherein feststeht. Sowohl Trump selbst als auch Bill Clinton wurden Opfer eines solchen Verfahrens.

Es ist unschwer zu erkennen, daß der Umgang von CDU/CSU, SPD, Grünen und Linkspartei mit ihren Kollegen von der AfD von genau denjenigen demokratiefeindlichen Sünden geprägt ist, die die beiden Autoren Trump und den Republikanern zum Vorwurf machen: Ächtung statt Achtung, Diskriminierung statt Toleranz, Haß auf den politischen Gegner statt Ehrfurcht vor dem Geist der Verfassung. Der von Susanne Hennig-Wellsow (Linke) vor die Füße eines mit AfD-Stimmen gewählten FDP-Ministerpräsidenten geschleuderte Blumenstrauß, der „Haß macht häßlich“-Furor von Johannes Kahrs in der Bundestagsdebatte am 12. September 2018 und die permanente rhetorische Ausgrenzung des politischen Gegners durch das demagogische Wir-die-demokratischen-Parteien-Framing sind nur die prominentesten Beispiele für plattgefahrene Leitplanken, die an die Achtung vor dem politischen Gegner erinnern sollten. Rechtlich bislang als zulässig geltende, aber die Gräben der politischen Auseinandersetzung zu persönlicher Todfeindschaft vertiefende Verstöße gegen das Prinzip der institutionellen Zurückhaltung waren:

 – im Jahr 2017 die Änderung der Geschäftsordnung des Bundestages, um eine Eröffnungsrede des AfD-Abgeordneten und Alterspräsidenten Wilhelm von Gottberg zu hintertreiben,

– der dauerhafte Ausschluß der AfD aus dem Bundestagspräsidium und Ausschußleitungsämtern

– das Abschneiden der Desiderius-Erasmus-Stiftung (DES) von den ihr nach dem Gleichheitsprinzip zustehenden staatlichen Fördermitteln.

Wenn SPD, CDU/CSU, Grüne, FDP und Linkspartei wie im Mai 2022 gemeinsam einem Antrag zustimmen, der die Erhöhung der Gelder für die ihnen selbst nahestehenden Stiftungen vorsieht, während gleichzeitig der Antrag der AfD, an der Ausschüttung der Gelder gleichberechtigt beteiligt zu werden, abgelehnt wird, ist das geradezu ein Musterbeispiel dafür, was Ziblatt und Levitsky als Durchbrechen der Leitplanken der Demokratie bezeichnen. Wer so agiert, ist kein Demokrat. Denn Maßgabe seines Verhaltens ist nicht der Wille des Souveräns, repräsentiert durch das Parlament, sondern der eigene Wille. Macht auszuüben nach eigenem Gutdünken, das ist die Definition von Autokratie.

Vier „Schlüsselindikatoren für autoritäres Verhalten“ nennen die Autoren von „Wie Demokratien sterben“. Mit der Leugnung der Legitimität eines politischen Gegners und der Bereitschaft, die Rechte der Opposition zu beschneiden, sind zwei von ihnen in der bundesrepublikanischen Gegenwart erfüllt. Ausdrücklich warnen sie vor einer Rhetorik, die oppositionelle Kräfte zu „Staatsfeinden oder Gegnern der bestehenden Ordnung“ erklärt, vor Versuchen, diese „von der vollen Beteiligung am politischen Leben aus[zu]schließen“, vor „weit gefaßten Verleumdungsgesetzen oder Gesetzen zur Beschränkung von Protesten“ sowie vor „rechtlichen Schritten“ gegen „Kritiker in konkurrierenden Parteien, in der Zivilgesellschaft oder den Medien“.

Die Maßnahmen zur Zersetzung der Demokratie, warnen die Politologen, vollziehen sich schleichend und unter dem „Anschein von Legalität“. Die „Vertiefung der Demokratie oder die Erhöhung der nationalen Sicherheit“ nennen Levitsky/Ziblatt als besonders populäre Begründungen. Daß ihr Buch anno 2022 einen wertvollen Beitrag zur Abrechnung mit der deutschen Innenpolitik („Demokratiefördergesetz“) leisten würde, hätten die beiden Harvard-Professoren bestimmt nicht gedacht.






Dr. Dietmar Mehrens, Jahrgang 1967, ist promovierter Literaturwissenschatler. Er lehrte zwischen 2003 und 2016 Deutsch und Literatur an Universitäten in der VR China sowie in Nordkorea. 2005 bis 2008 moderierter er den Kino-Ratgeber  auf Bibel.TV. Heute ist er als Dozent und Publizist in der Region Hamburg tätig. Mehrens ist Herausgeber der Aufsatzsammlung „Zurück zu Gott! Der Weckruf von Notre-Dame“, der einen Text von Papst Benedikt XVI. enthält.

Foto: Blumenstrauß vor den Füßen des gewählten thüringischen Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich (FDP): Innerhalb der Demokratie gilt dem Anstand besondere Achtung.