© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/23 / 27. Januar 2023

Die weißen Männer in Mississippi
Kino I: In dem Bürgerrechtsdrama „Till“ geht es um brutale Gewalt und die Kraft des Glaubens
Dietmar Mehrens

Till“ ist einer dieser Filme, bei denen man von Anfang an das ungute Gefühl hat, daß in absehbarer Zeit etwas Schlimmes passieren wird. So viel Unbeschwertheit und Frohsinn, das kann einfach nicht lange gutgehen. Emmett Till, genannt Bobo (Jalyn Hall), ist ein 14jähriger Chicagoer Knabe, den man einfach gernhaben muß. Er ist fast immer gut gelaunt, zeigt sein breites Grinsen mit der gigantischen Zahnlücke und lacht damit die Sorgen, die seine Mutter Mamie (Danielle Deadwyler) sich macht, als er zum Geldverdienen zu seinen Vettern auf die Baumwollfelder von Mississippi aufbricht, einfach weg. Dort unten gelten andere Regeln, schärft Mamie dem Jungen ein, er solle sich vor den Weißen in acht nehmen. 

Die Warnung ist das, was im amerikanischen Kino „foreshadowing“ genannt wird: Ein Schatten des Verhängnisses, das dem Helden droht, ragt bereits früh in die Handlung herein. Als Emmett im Lebensmittelladen von Carolyn Bryant (Haley Bennett) in Tallahatchie County vor der Kasse steht und ihr ein Kompliment machen möchte – sie sehe ja aus wie eine Schauspielerin –, da geht der Schuß gewaltig nach hinten los. Wenig später stehen zwei bewaffnete weiße Männer vor der Tür von Emmetts Onkel und fordern, ihnen den Jungen auszuliefern. Er soll für die unverschämte Grenzüberschreitung büßen.

Was folgt, ist ein – leider – wahres Drama: Ein paar Tage später wird Emmetts Leiche aus einem Fluß gefischt, grausam entstellt durch die Marter, die der Junge vor seinem Tod zu erdulden hatte. Es beginnt ein langer Kampf um die Wahrheit (wie ihn auch der deutsche Titel des Films verheißt) und für Gerechtigkeit.

Till, das ist nicht nur der Familienname von Emmett und seiner Mutter, es ist auch das englische Wort für die Präposition „bis“. Bis hierhin nämlich, könnte man die Botschaft des Films umreißen, und nicht weiter: Der Fall Emmett Till wird zur Initialzündung für eine Bürgerrechtsbewegung im US-Staat Mississippi, in dem sich dieser Fall 1955 tatsächlich zugetragen hat. Und Emmetts Mutter Mamie spielt dabei eine zentrale Rolle.

Irrationale Verblendung ist keine Frage der Hautfarbe

Das Thema ist nicht ganz neu. In „Mississippi Burning – Die Wurzel des Hasses“ (1988) und der John-Grisham-Verfilmung „Die Jury“ (1996) hatte sich Hollywood der Bürgerrechtsthematik bereits in aufsehenerregenden Produktionen angenommen und rassistische Gewaltverbrechen in den  Mittelpunkt einer Filmhandlung gerückt. „Till“ ist nun gleichsam der Film für alle, denen in „Die Jury“ Weiße zu gut weggekommen sind. Denn die nigerianisch-amerikanische Regisseurin Chinonye Chukwu (37) zeichnet die weißen Männer von Tallahatchie County etwas überambitioniert und schablonenhaft fast ausnahmslos als dumpfbackige Glatzköpfe mit leichtem bis mittelschwerem Übergewicht, blaß im Gesicht und blaß im Denken.

Diese die Grenze zur Karikatur überschreitende Darstellung, die das trendige „White Supremacy“-Klischee vom bösen weißen Mann bedient, und der infolgedessen massiv überakzentuierte Schwarzweiß-Kontrast ist die eine Schwäche des Films. Die andere: das an manchen Stellen, nicht zuletzt durch ein Zuviel an Musik, ausufernde Pathos.

Die große Stärke ist Hauptdarstellerin Danielle Deadwyler. Sie verkörpert die gepeinigte Mutter, die ihrem Leid kraft des Glaubens die Würde einer entschlossenen Kämpferin abringt, so aufwühlend und authentisch – einfach eine schlichtweg oscarreife Schauspielleistung. Gerade im größten Leid gibt der Glaube ihrer Väter, der jedem Krawall eine Absage erteilt, Mamie die Kraft zum Widerstand. Und selbst als sie einsehen muß, daß ihre Bitten um Bewahrung für ihren Sohn nicht erhört wurden, bekennt Mamie immer noch: „Ich gebe Gott alle Ehre!“ 

Vermutlich werden viele in Anbetracht von Chinonye Chukwus Steilvorlagen gleich wieder vom großen „Black Lives Matter“-Pamphlet sprechen. Aber vielleicht sollte man „Till“ einfach als „All Lives Matter“-Film auffassen, mit dem jeder das assoziiert, was ihn selbst am ehesten betrifft. Warum sollte sich mit dem von Danielle Deadwyler ergreifend dargestellten Schmerz über den Verlust des eigenen Kindes nicht auch die Mutter der 13jährigen Leonie identifizieren, die von drei afghanischen Asylbewerbern nach der Verabreichung von Rauschgift vergewaltigt und ermordet wurde, oder die der 14jährigen aus Illerkirchberg, die am 5. Dezember ein Mann aus Eritrea tötete?  

Daß Engstirnigkeit, Ignoranz und irrationale Verblendung eine Frage der Hautfarbe seien, ist die Botschaft von Chinonye Chukwus großartig gespieltem und inszeniertem Films gewiß nicht. Eher dürfte wohl ein falscher Geist, ein Ungeist, schuld sein, wenn Menschen in die Irre geführt werden und grausame Verbrechen die Folge sind.

Kinostart ist am 26. Januar 2023