© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/23 / 27. Januar 2023

Zwiesprache mit Stimmen aus dem Altpapier
Literatur: Der Schriftsteller Arno Geiger erzählt in „Das glückliche Geheimnis“ von seinem Doppelleben als Papiermüllsammler
Thorsten Thaler

Frage: Was macht ein junger Mann von 24 Jahren, der als Student kurz vor seinem Abschluß steht, danach aber keine Anstellung will, sondern lieber Schriftsteller werden möchte? Richtige Antwort: Er beginnt, Altpapier zu sammeln, aus Abfallcontainern. Das ist, auf eine Kurzformel gebracht, die Geschichte von Arno Geiger. Der inzwischen vielfach preisgekrönte österreichische Bestsellerautor erzählt sie uns in seinem soeben erschienenen autobiographischen Roman „Das glückliche Geheimnis“.

Alles beginnt Anfang der neunziger Jahre. Geiger lebt in Wien auf dreißig Quadratmetern in einer heruntergekommenen Wohnung, bestehend aus einem Zimmer und einer engen Küche, das Klo auf dem Gang muß er sich mit den Nachbarn teilen. Seine wirtschaftlichen Verhältnisse sind prekär, neben dem Studium der Germanistik, Vergleichenden Literaturwissenschaft und Alten Geschichte jobbt er im Sommer als Bühnentechnikgehilfe bei den Festspielen in seiner Geburtsstadt Bregenz. In seiner Freizeit schreibt er an ersten Romanen.

Als er eines Tages über fünf neben einem Papiercontainer abgestellte Bananenkartons mit Büchern stolpert, dreht sich sein Leben. „Ich dachte, warum nur in den einen Papiercontainer schauen, wenn es in der Stadt Abertausende gibt. So kam es, daß ich vom guten Weg abwich und aufs Geratewohl losmarschierte auf ein Terrain, das gekennzeichnet ist von Schmutz und fehlender Schicklichkeit. Ich geriet in etwas hinein, das sich zunächst als Irrsinn erwies und später als eine gute Sache.“ Einige Seiten weiter variiert er diesen Gedanken noch einmal: „Daß ich mich jetzt in Teilzeit in die Gosse warf, empfand auch ich insgeheim als Grenzüberschreitung nach unten. Wer tat, was ich tat, war nach dem Sittenmaß der damaligen Zeit sozial markiert und gehörte zum gesellschaftlichen Bodensatz.“

Der Nebenerwerb bringt mehrere Monatsmieten ein

Zunächst entwickelt sich aus dem Treiben ein kleiner Nebenerwerb. Mit „überraschender Regelmäßigkeit“ stößt Geiger bei seinen Streifzügen durch die Abfallbehälter auf teils wertvolle Bücher, Briefmarkensammlungen, historische Wertpapiere, alte Comis oder Autoprospekte, Druckgrafiken und Plakate, die er ins Auktionshaus bringt. Andere Fundstücke verkauft er zusammen mit seiner Freundin auf Flohmärkten. Das bringt ihnen immerhin mehrfache Monatsmieten ein; es „fühlte sich an, als könnten wir wie Dagobert Duck im Geldspeicher schnorcheln“.

Dennoch geht es mit der Beziehung langsam, aber stetig bergab, zu verschieden entwickeln sich beider Lebensentwürfe. „Manchmal zitterten mir die Knie“, schreibt Geiger über den Schlußstrich nach acht Jahren, „und momentweise fing ich an zu stottern. Mein Körper wußte sich besser auszudrücken als ich. Das Stottern sagte, daß es nichts mehr zu sagen gab.“ Auch das Sammeln von Altpapier endet, jedenfalls vorübergehend. Geiger geht mit einem Stipendium für mehrere Monate nach Berlin, strudelt dort in einen nie zuvor gekannten Lebensrausch hinein und kehrt danach „zum Herunterkommen“ in sein Elternhaus zurück, zum Vater mit beginnender Demenz und der zu „depressiver Verstimmtheit“ neigenden Mutter. Gut eine Dekade später wird Geiger über die Alzheimerkrankheit des Vaters mit „Der alte König in seinem Exil“ (2011) ein ungemein bewegendes, herzergreifendes Buch schreiben. 

In der Heimat lernt er auf einer Geburtstagsfeier auch seine heutige Frau K. kennen, eine Ärztin. Mit ihr siedelt er wieder nach Wien über, und als sie eines Tages berufsbedingt zu einer Studienreise ins Himalaya-Gebirge aufbricht, nimmt Arno Geiger auch seine Sammlertätigkeit im Altpapier wieder auf – inspiriert nicht zuletzt durch den französischen Dokumentarfilm „Die Sammler und die Sammlerin“ von Agnès Varda. Dieser Film ist für den Autor „eine Spurensuche, wie tief das Herumstreifen und Sammeln in die Natur des Menschen eingeschrieben ist, ein Nachdenken über das Sammeln als Kulturtechnik“. Es falle immer „irgendwo etwas ab, ein Rest, um den es schade wäre, wenn er verlottern, verrotten oder verschrottet würde“.

In dieser Zeit fängt Geiger mit seinem Roman „Es geht uns gut“ an. Ein großzügig dotiertes amerikanisches Stipendium verschafft ihm finanzielle Spielräume. Er konzentriert sich ganz aufs Schreiben und Sammeln. „Die nach Hause gebrachten Fundstücke erleichterten die Arbeit, sie halfen mir, eine Haupschwäche meines bisherigen Schreibens zu beheben: den Mangel an Gewöhnlichem.“ Die Handlung und die Figuren dieses Gesellschaftsromans über drei Generationen hinweg sind zwar fiktiv. „Aber ohne die Impulse von außen würden viele Nuancen fehlen, das Gespür für die unterschiedlichen Zeit- und Sprachebenen, Unmengen an Alltagsdetails.“

Die Briefsammlungen, die er im Altpapier aufstöbert, schärfen seinen Wirklichkeitssinn für die Vielfalt von Stimmen und Perspektiven. „Ich stellte fest“, notiert Geiger in seiner Autobiographie, „daß mir die Toten nicht weniger zu sagen hatten als die Lebenden. (…) In meiner Wohnung war es, als unterhielte ich mich auf einem riesigen Schuttplatz mit Gespenstern.“ Die Konvolute räumten auch mit Klischees auf, die Geiger von vergangenen Zeiten pflegte, zum Beispiel von den fünfziger Jahren. Sie schulten seinen Blick „für das Untypische, für das Individuelle, für das Zufällige und Widersprüchliche“.

In einer hinreißenden Passage seines Werkstattberichts „Das glückliche Geheimnis“ heißt es: „Das Geschriebene spricht, solange jemand zuhört. Vielleicht spricht das Geschriebene sogar, wenn niemand zuhört. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum Geschriebenes weggeworfen wird. Zu sehr flüstert es in den Schubladen.“ Geiger haben die Geisterstimmen laut zugeflüstert.

Der Roman „Es geht uns gut“ erschien im Sommer 2005. Arno Geiger erhielt dafür den renommierten Deutschen Buchpreis. Das Sammeln von Altpapier hat er längst aufgegeben.

Arno Geiger: Das glückliche Geheimnis. Hanser, München 2023, gebunden, 240 Seiten, 25 Euro