© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/23 / 27. Januar 2023

Meister des Subjektiven
Literatur: Zum hundertsten Geburtstag des US-Schriftstellers Norman Mailer
Silke Lührmann

Norman Mailer war ein Jahrhundertschriftsteller im wahrsten und besten Sinne des Wortes: ein Zeitzeuge, der kein historisches Ereignis unkommentiert ließ – und seinerseits einen nicht unerheblichen Einfluß auf die US-amerikanische Kultur- und Literaturgeschichte nahm. Eine Stimme, deren fulminanten Klang man – gut 15 Jahre nach Mailers Tod – in der unerbittlichen Kakophonie der Influencer und Twitterati vermißt. 

Als passionierter Aktivist, engagierter Essayist und Mitbegründer der linksalternativen New Yorker Wochenzeitung The Village Voice zählte Mailer mit Truman Capote, Hunter S. Thompson, Tom Wolfe und Joan Didion zu den prominentesten Vertretern des New Journalism, der aus der Subjektivität des Berichterstatters eine ausdrückliche Tugend machte. Sein Lebenswerk umspannt den Aufstieg und Fall des Imperium Americanum vom hart erkämpften Zukunftsoptimismus der unmittelbaren Nachkriegszeit und der Paranoia der McCarthy-Ära bis zur bitteren Ernüchterung der 2000er Jahre. Sein erster Roman („Die Nackten und die Toten“, 1948) erzählt vom erbärmlichen Überleben und Krepieren junger Amerikaner an der Pazifikfront; sein letzter („Das Schloß im Wald“, 2007) – weitaus weniger autobiographisch inspiriert – von dem Leibhaftigen, der Hitler geritten haben muß: eine Spinnerei, die sogar von der deutschen Kritik überraschend gnädig aufgenommen wurde (der Focus bezeichnete das Werk als „sprachgewaltig, faszinierend und überwiegend brillant – wenn auch hin und wieder etwas unglaubwürdig“). 

Nachem Malech Mailer wuchs zunächst in New Jersey, dann in Brooklyn als Sohn jüdischer Einwanderer auf. Nach dem Studium der Flugzeugtechnik am Harvard College wurde er zum Wehrdienst eingezogen. Den Einsatz als Soldat auf den Philippinen und in Japan bezeichnete er später als „die schlimmste Erfahrung meines Lebens, aber auch die wichtigste“. Mailer schrieb über die Hipsterkultur („The White Negro“, 1957); über zeitgeschichtliche Ikonen wie Marilyn Monroe („Ich, Marilyn M. Meine Autobiographie“, 1980) und Muhammad Ali („Der Kampf“, 1975); über John F. Kennedy („JFK. Superman kommt in den Supermarkt“, 1960) und seinen Mörder („Oswalds Geschichte“, 1995); über die Mondlandung („Auf dem Mond ein Feuer“, 1971) und die Kulturkämpfe der 1960er Jahre („Heere aus der Nacht“, „Nixon in Miami und die Belagerung von Chicago“, beide 1968); über Jesus („Das Jesus-Evangelium“, 1997). Er antwortete auf die aufkommende feministische Literaturkritik und ihre Sexismus-Vorwürfe gegen ihn („Gefangen im Sexus“, 1971) und profilierte sich als so vehementer wie konsequenter Kritiker des westlichen Interventionismus von Vietnam über Kosovo bis hin zum Irak-Krieg („Heiliger Krieg. Amerikas Kreuzzug“, 2003). 

Mailers Privatleben war kaum weniger spektakulär als sein schriftstellerischer Erfolg. Fünf Ehen endeten in Scheidung – eine davon zudem mit einer dreijährigen Haftstrafe auf Bewährung für den Messerangriff auf seine zweite Frau Adele Morales im November 1960 –, die sechste hielt 27 Jahre lang. Der Mythos Mailer läßt sich um zusätzliche Facetten bereichern: etwa die öffentlichen handgreiflichen Konfrontationen mit seinem Zeitgenossen und literarischen Rivalen Gore Vidal. Oder auch die gescheiterte Bewerbung um die Nominierung als demokratischer Kandidat für die New Yorker Bürgermeisterwahlen 1969 mit dem Wahlkampfversprechen, die Weltstadt als eigenständigen 51. US-Bundesstaat zu konstituieren. 

Mailers Ableben am 10. November 2007 quittierte die Welt mit der Überschrift „Amerikas literarischer Macho ist tot “ – eine Pietätlosigkeit, die dem damit Gewürdigten womöglich nicht unbedingt mißfallen hätte. Die New York Times titelte etwas zurückhaltender: „Überragender Schriftsteller mit entsprechendem Ego stirbt im Alter von 84 Jahren“.

Das große Thema, das Mailers Prosa durchzieht, ist die Faszination für Gewalt als prägende Komponente der US-Geschichte und -Kultur. Nach dem Vorbild von Capotes Tatsachenroman „Kaltblütig“ (1966) dokumentiert Mailer in „Gnadenlos“ (1979) auf über tausend Seiten in minutiös recherchiertem Detail den Werdegang des zweifachen Raubmörders Gary Gilmore vom Kleinkriminellen zum notorischen Protagonisten der Justizgeschichte. Gilmores Hinrichtung, die im Januar 1977 auf sein Bestehen durch ein Erschießungskommando vollzogen wurde, war die erste Vollstreckung eines Todesurteils in einem US-amerikanischen Gefängnis seit einem knappen Jahrzehnt; er hatte auf jegliche Möglichkeiten verzichtet, Berufung gegen seine Verurteilung einzulegen, und seine Anwälte explizit angewiesen, die Todesstrafe zu fordern.

„Gnadenlos“ bescherte Mailer nicht nur eine zweite Auszeichnung mit dem begehrten Pulitzer-Preis, den er bereits 1969 für die Reportage „Heere aus der Nacht“ erhalten hatte, sondern auch Fanpost von einem neuen Brieffreund: Jack Abbott, der wegen verschiedener Gewaltverbrechen eine mehrmals verlängerte Haftstrafe absaß, bot ihm seine Dienste als zuverlässiger Informant mit Insiderkenntnissen des Strafvollzugwesens an. Mailer war federführend an der Kampagne zur Erwirkung von Abbotts frühzeitiger Entlassung sowie der Veröffentlichung seiner Briefe aus dem Gefängnis beteiligt, die 1981 mit einer Einleitung von Mailer unter dem Titel „In the Belly of the Beast“ erschienen. Sechs Wochen nach seiner Freilassung erstach Abbott einen Kellner im Streit um die Benutzung der Restauranttoilette, wurde wegen Totschlags verurteilt und verbrachte den Rest seines Lebens in Haft.

Am 31. Januar wäre Mailer hundert Jahre alt geworden. Was der schonungslose Chronist und Meinungsmacher wohl zu den Hoffnungen zu sagen gewußt hätte, die sich an den Wahlsieg von Barack Obama knüpften? Und was zu Trumps Präsidentschaft? Oder zu den in Kühllastern mitten in New York gelagerten Leichen, dem Feldlazarett im Central Park, den Corona-Leugnern, den Debatten um Maskenpflicht, Kontaktverbote und die allgemeine Politisierung privater und öffentlicher Infektionsschutzmaßnahmen? Fest steht nur: Es wäre sicherlich lesenswert gewesen.