Nein, so der Redner scheinbar demütig, heute abend wolle er nicht daran erinnern, „daß ich es schon seit langem sage! Daß ich seit Jahren warne!“ Und listig setzt er eine Pause, eben damit das angeblich Verneinte auch ja jedem im Saal tief ins Bewußtsein dringt. Mit Spitzbübereien wie dieser würzt Konstantin Kisin seine Rede vor der Oxford Union, einem der renommiertesten Debattierclubs der Welt, die jüngst mit zig Millionen Aufrufen zum Social-Media-Hit geworden ist. Wo sonst US-Präsidenten und Wirtschaftskapitäne sprechen, steht nun ein Youtuber, der mit seinem Polit-Kanal „Triggernometry“ gewaltigen Erfolg erzielt hat: über vierzig Millionen Downloads binnen fünf Jahren.
Dabei machte Kisin anfangs nur Kabarett, geriet aber zunehmend in Konflikt mit immer neuen gesellschaftlichen Verboten. 2018 kam unfreiwillig der Durchbruch: Als Studenten seinen Auftritt buchten, erhielt er vorab ein Reglement, zu verzichten sei auf „Rassismus, Sexismus, Klassismus, Altersdiskriminierung, Homophobie, Bi-Phobie, Xenophobie, Islamophobie, Kritik antireligiöser/antiatheistischer Haltungen“, und Witze seien „respektvoll“ zu reißen. Kisin traute seinen Augen nicht, stellte die Litanei plus Ablehnung ins Netz und legte sich schlafen. Als er am nächsten Morgen erwachte, war er, der von sich sagt, er sei damals so unbekannt gewesen, daß selbst seine Agentin nicht wußte, wer er war, landesweit ein Name.
Kisin steht für die Neuorientierung eines Teils der Linksliberalen, der sich nun gegen die Linke wendet.
Mit seinem Kollegen Francis Foster beschloß Kisin daraufhin, der für Kabarettisten ungewohnten Zensur von links mit „Triggernometry“ auf den Grund zu gehen. Ihr Youtube-Kanal, dessen Name im Englischen die Assoziation weckt, hier werde gezielt und scharf geschossen, bietet vielfältige Analysen des Wokeismus in Interviewform. Der Erfolg überraschte wohl auch die Macher, denn die Gespräche sind lang und das intellektuelle Niveau hoch. Doch ihre lockere Moderation und der Umstand, daß sie einen linksliberalen Standpunkt vertreten – Kisin: „Ich bin schon für Diversity! Aber bitte auch bei Meinungen!“ –, schien einen Nerv getroffen zu haben. Denn traditionell kritisierten den Wokeismus rechte Youtuber, mit denen sich aber viele, die sich von ihm ebenfalls bedroht sehen, nicht identifizieren können. Kisin und Foster stehen damit für die Neuorientierung eines Teils der Linksliberalen, der sich, nach über einem halben Jahrhundert an der Seite der Linken, nun gegen diese wendet – und dabei auch intellektuelle Neugier für Analysen ihrer neuen Mitstreiter, der Rechten, entwickelt. So identifiziert man auf „Triggernometry“ den Wokeismus etwa unbefangen als „Kulturmarxismus“ – ein Wort, das hierzulande noch direkt in die Hölle der Verfassungsschutzberichte führt.
Kisin erinnert dabei immer wieder an seine familiäre Erfahrung: Als Kind russischer Juden, 1982 in Moskau geboren, wisse er die freiheitliche Gesellschaft ganz besonders zu schätzen. 2022 erschien sein Bestseller „An Immigrant‘s Love Letter to the West“. Wann immer es im britischen TV um Meinungsfreiheit geht, sitzt Kisin im Studio und erklärt den Woken, „daß diese keine rechtsextreme Tarnstrategie ist“. Heute sagt er, dank der Sezierung des Wokeismus auf „Triggernometry“ habe er erkannt, daß dieser nicht nur Zensur sei, wie er anfangs dachte – sondern eine „antihumane Ideologie“.