Herr Professor Scholz, ein Jahr „Klimakleber“-Proteste: Ausweis lebendiger demokratischer Kultur oder Kapitulation des Rechtsstaats?
Rupert Scholz: Weder noch. Das Bundesverfassungsgericht hat sich ja bereits mit ähnlichen Problemen befaßt, etwa bei den Castor-Transporten. Dabei hat es darauf hingewiesen, daß im Rahmen genehmigter Demonstrationen gewisse Verkehrsbehinderungen hinzunehmen sind, soweit sie sich, so das Gericht, „ohne Nachteile für den Veranstaltungszweck nicht vermeiden lassen“. Schon davon kann hier aber nicht die Rede sein. Das Gericht hat auch weitere Grenzen deutlich aufgezeigt: Diese sind erreicht, wenn die Formen des Protests unverhältnismäßig, aggressiv und in die Rechte Dritter eingreifend sind. Und das ist das, womit wir es bei den Klimaklebern zu tun haben.
Also doch „Kapitulation des Rechtsstaats“?
Scholz: Die Reaktionen auf die Klimakleber sind doch recht unterschiedlich. Während man den Eindruck hat, daß diese in Berlin nur halbherzig zur Verantwortung gezogen werden, geht man in München etwa offenbar konsequenter gegen sie vor.
Die einen nennen sie „Klimaterroristen“, die anderen geißeln das als das „Unwort des Jahres“. Zu Recht?
Scholz: Das Wort benennt einen Sachverhalt, der in der Tat zu kritisieren ist. Insofern halte ich seinen Gebrauch mit Hinblick auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit für durchaus noch legitim, und dies sollte nicht durch die Etikettierung als Unwort diskreditiert werden.
Allerdings stellt man sich unter Terroristen landläufig bewaffnete Gewalttäter vor. Und das trifft auf die Klimakleber ja nun wirklich nicht zu.
Scholz: Ich sage auch nicht, daß der Begriff glücklich gewählt ist. Natürlich kann man mit guten Gründen argumentieren, daß er nicht paßt, und ich selbst würde ihn auch nicht benutzen. Aber Terrorismus ist ein sehr weiter und unbestimmter Begriff, so daß es zulässig sein muß, ihn zu wählen. Denn der Tatbestand dahinter, das Blockieren durch Festkleben, ist klar unrechtmäßig.
Wo zwischen „Klimaterroristen“ einerseits und „zivilem Ungehorsam“ (ZDF) beziehungsweise „demokratischem Protest“ (ARD) andererseits würden Sie die Klimakleber einordnen?
Scholz: Man muß anerkennen, daß einige der jungen Leute wohl aufrichtige Motive haben, und es ist ihr Grundrecht, ihrem Protest durch Demonstrationen Ausdruck zu geben. Zudem meine ich, daß wir dem für junge Menschen nun mal typischen Eifer auch mit etwas Großmut begegnen sollten. Doch andererseits kann das alles keinesfalls legitimieren, daß sie sich bei ihrem Tun rechtswidriger Mittel bedienen. Und es geht dabei auch nicht um „zivilen Ungehorsam“, wie ja etliche behaupten, sondern um Straftatbestände wie Eingriff in den Straßenverkehr und Nötigung. Hinzu kommt: Der Protest richtet sich gegen die Politik von Bundes- und Landesregierungen – die Maßnahmen aber werden gegen unbeteiligte Dritte, das heißt die Verkehrsteilnehmer, ergriffen. Und das macht alles noch unverhältnismäßiger. Im übrigen frage ich mich, woher das viele Geld kommt, das den Straßenklebern zugewendet wird.
Die Klimakleber sehen in Autofahrern und Öffentlichkeit allerdings keine „unbeteiligten Dritten“, sondern Schuldige: „Weil wir das unfaßbare Unrecht in unserer Gesellschaft nicht mehr hinnehmen ..., (werden) wir mit massiven Blockaden ... die Republik lahmlegen.“
Scholz: Das bestätigt nur, daß hier jene Merkmale erfüllt sind, die das Bundesverfassungsgericht als rote Linie definiert hat. Und ich gehe noch einen Schritt weiter: Die Klimakleber beanspruchen, ihr Protest sei gewaltlos. Nein, leider geht es hier auch um Gewalt gegen Personen! Denn wenn es zur Behinderung von Rettungswagen, Notärzten, Feuerwehr oder Polizei kommt, stehen möglicherweise Gesundheit oder gar das Leben Hilfebedürftiger auf dem Spiel, so daß menschliche Opfer nicht ausgeschlossen werden können. Ja, sogar in den Flugverkehr wurde schon eingegriffen, was hochgefährlich ist!
Stimmt, doch ist von den Klebern glaubwürdigerweise nicht gewollt, daß Menschen zu Schaden kommen. Kann man ihren Aktionen das also wirklich zurechnen?
Scholz: Natürlich, denn sie haben sich nicht um die Gefährdung anderer gesorgt, sondern in Kauf genommen, daß zum Beispiel so etwas wie im November in Berlin passiert: als ein dringend benötigtes Spezialfahrzeug der Feuerwehr in einem von ihnen verursachten Stau feststeckte, so daß die Retter vor Ort genötigt waren, den Lkw, der eine 44jährige Radfahrerin überfahren hatte, erneut über die Schwerstverletzte rollen zu lassen, um diese bergen zu können.
Der Fall wurde von der „Letzten Generation“, die hinter den Klimaklebern steht, ausdrücklich bedauert. Und seitdem gehen diese in Berlin offenbar dazu über, bei Blockaden eine Rettungslücke freizulassen.
Scholz: Vor diesem Unfall waren bereits 17mal Rettungsfahrzeuge durch Berliner Klimakleber behindert worden, und dennoch wurden die Aktionen nicht eingestellt. Ein Fall wie der der Radfahrerin wurde also in Kauf genommen. Das ist vollkommen untragbar und eindeutig der Übergang hin zur Gewalt gegen Personen. Deshalb halte ich auch das von seiten der „Letzten Generation“ ausgedrückte Bedauern über den Tod der Frau nicht für ehrlich. Zumal wir wissen, wie manche unter ihnen wirklich zu denken scheinen, nachdem eine ihrer prominenten Figuren diesbezüglich lapidar twitterte: „Shit happens.“
Aber müßten Sie das dann nicht auch angemeldeten Demonstrationen vorwerfen? Denn auch für sie werden Verkehrsbehinderungen in Kauf genommen, in denen Rettungsfahrzeuge steckenbleiben können.
Scholz: Mir ist nicht bekannt, daß es bei einer genehmigten Demonstration in Berlin so einen Fall gegeben hat, da die Polizei Vorkehrungen trifft, um Staus zu verhindern. Und weil im Notfall die Demonstranten, anders als die Kleber, Straßen für Rettungsfahrzeuge in aller Regel zu räumen pflegen.
Für eine Debatte hat auch die Frage gesorgt, ob blockierte Autofahrer die Straße selbst räumen dürfen. Die Berliner Polizei warnte davor und verwies auf Artikel 8 des Grundgesetzes, der die Versammlungsfreiheit auch dann garantiere, wenn ein Protest nicht angemeldet ist. Dagegen sprach etwa der Berliner Richter Pieter Schleiter davon, daß Nötigung vorliege, sobald ein zweites Auto durch das erste haltende Fahrzeug blockiert ist. Was Betroffene zur Notwehr beziehungsweise Nothilfe berechtige – die straffrei bleibe, solange sie die Kleber ohne weitere Gewaltausübung von der Straße tragen. Wie sehen Sie das?
Scholz: Man muß die Dinge auseinanderhalten: Zwar handelt es sich bei den Klebeblockaden um Rechtsverstöße, doch berechtigen diese nicht automatisch zur Selbsthilfe. Vielmehr gilt bei uns das Gewaltmonopol des Staates – das heißt, die Polizei ist für die Räumung und eventuelle Sanktionen zuständig. Und erst recht ist es unzulässig, wie offenbar vorgekommen, zur Einschüchterung auf die Kleber zuzufahren oder gar zu versuchen, zwischen ihnen hindurch und über ihre Hände zu rollen. Also bitte auf die Polizei warten! Allerdings hat diese, ebenso wie die Justiz, auch dafür zu sorgen, daß eine angemessene Bestrafung der Blockierer erfolgt. Denn strafrechtliche Sanktionen dienen auch der Abschreckung, damit sich auch solche Straftaten nicht wiederholen und der Bürger geschützt ist.
Bisher haben wir über die rechtliche Seite gesprochen. Was aber ist mit der politischen? Denn ein politisches Motiv hebt eine Tat auf eine andere Ebene: Mord zur Bereicherung etwa ist „nur“ kriminell, aus politischen Motiven dagegen Terrorismus. Welche Rolle spielt der Umstand, daß hier nicht nur Straftatbestände erfüllt sind, sondern mit Straftaten zudem politische Ziele erzwungen werden sollen?
Scholz: Diese Bewegung ist doch gar nicht in der Lage, gegenüber dem Staat etwas zu erzwingen. Diesen Anspruch halte ich mehr für Propaganda als für Realität. Im übrigen können sie niemandem ihre Meinung aufzwingen.
Auch wenn es unmittelbar ohne Aussicht auf Erfolg ist, müßte die Absicht, Staat und Volk zu erpressen, nicht maßgeblich bei der Beurteilung der Taten sein, sowohl vor Gericht, als auch in der öffentlichen Debatte?
Scholz: Die öffentliche Debatte ist ja ebenfalls uneinheitlich, und durchaus auch recht kritisch. Ihr entstammt ja gerade der Begriff „Klimaterroristen“.
Es stimmt, es gibt viel Kritik – aber ebensoviel Unterstützung seitens der Medien. Darüber hinaus legitimieren nicht nur Politiker, etwa die beiden Grünen Ricarda Lang und Clara Herrmann, die rechtswidrigen Aktionen, sondern sogar Juristen. Kein Geringerer als ein Landesverfassungsrichter, Michael Hassemer aus Rheinland-Pfalz, sagte etwa im SWR-Fernsehen: „Ich kann mir den Klimawandel und seine Folgen ohne weiteres als eine Notstandssituation und damit auch als Rechtfertigung für bestimmte Rechtsgutverletzungen vorstellen. Insbesondere da die Lage ja nicht besser wird, sondern wir mit immer gravierenden Konsequenzen des Klimawandels zu rechnen haben.“
Scholz: So etwas zu sagen liegt in der Entscheidungs- und Meinungsfreiheit von Politikern und Journalisten. Aber dennoch halte ich solch ein Verhalten für ausgesprochen unklug. Denn es erweckt bei den Aktivisten den fatalen Eindruck, ihr Tun sei nicht verwerflich und rechtswidrig, sondern legitim und rechtmäßig. Nochmals, diese Leute sind Straftäter! Und solchen gegenüber Empathie oder sogar Sympathie zu bekunden ist wirklich fragwürdig. Auch weil dahinter eine noch weitreichendere Entwicklung sichtbar wird, nämlich die Tendenz, politisch-gesellschaftliche Konflikte zunehmend mit Gewalt, zumindest mit psychischer Gewalt, auszutragen. Was zudem mit einer Legitimierung angeblich „guter Gewalt“, also der für das „richtige“ Ziel, einhergeht. Gewalt aber – außer natürlich der an Recht und Gesetz gebundenen staatlichen – ist im Rechtsstaat niemals legitim! Vielmehr setzt dieser das Prinzip bedingungsloser Friedfertigkeit voraus. Denn dies ist die Grundlage der Gleichheit aller Bürger, insbesondere zugunsten Schwächerer. Und diese Gleichheit zu garantieren ist wiederum eine Kernaufgabe des demokratischen Verfassungsstaates.
Allerdings wird gerade die linksextremistische, zum Teil gewaltbereite Szene, die das, was Sie da kritisieren, vorantreibt und aus der sich die Klimabewegung zum Teil speist, ausgerechnet vom Staat massiv subventioniert, Stichwort „Demokratieförderprogramme“.
Scholz: Das geht natürlich gar nicht, und der Staat muß darauf reagieren und das unterbinden.
Aber das passiert nicht – was übrigens kein spezifisches Merkmal der Ampel-Regierung ist, denn das war schon unter Kanzlerin Merkel so.
Scholz: Ich habe Mißstände in puncto Verharmlosung extremistischer Gruppen immer kritisiert, zum Beispiel den Umgang mit der sogenannten Antifa. Da, wo so etwas zutage tritt, sind die entsprechenden Behörden aufgerufen zu handeln, Punkt!
Aber das Gegenteil ist der Fall! Denn so viel staatliche Steuergelder für extremistische und gewaltaffine Gruppen wie heute hat es noch nie zuvor gegeben.
Scholz: Ich kann das im einzelnen nicht beurteilen. Aber selbstverständlich plädiere ich dafür, da genau hinzuschauen und solche Fälle aufzuklären. Das ist man schon dem Steuerzahler schuldig.
Anders als beim Kleben kam es in Lützerath zu offener Gewalt. Die „Letzte Generation“ argumentiert jedoch, die Mehrzahl der Besetzer sei friedlich geblieben. Ist das überzeugend?
Scholz: Nein, da man von ihnen hätte erwarten können, daß sie sich von einem Protest, aus dem heraus Straftaten verübt werden, entfernen und sich von ihm distanzieren. Dennoch sind sie strafrechtlich aber natürlich nicht zu belangen, da sie sich selbst an der Gewalt nicht beteiligt haben.
Die Klimabewegung hat prägenden Einfluß auf einen erheblichen Teil der jungen Deutschen. Wenn diesen weiterhin vermittelt wird, daß Demokratie und Rechtsstaat nicht so wichtig, Rechtsbruch und politische Erpressung legitime Mittel sind, die Meinung anderer nicht zu respektieren ist, sondern man ihnen die eigene aufzwingen darf – was für „Demokraten“ werden dann daraus später einmal?
Scholz: Ich habe ja eben schon selbst gewarnt. Auf der anderen Seite würde ich aber auch nicht gleich allzu sehr schwarzsehen. Denn all das hat es auch schon früher gegeben, denken Sie etwa an die Achtundsechziger-Bewegung mit ihren zum Teil schlimmen Auswüchsen, wie dem RAF-Terror. Dennoch ist unsere Demokratie nicht gescheitert, sondern sogar gestärkt daraus hervorgegangen.
Kurzfristig ja, da der bewaffnete Arm scheiterte und sich die Bewegung parlamentarisierte. Aber gilt das heute, nach dem erfolgreichen „Marsch durch die Institutionen“ auch noch? Fakt ist: Laut Umfrage hatten seit Beginn der Bundesrepublik noch nie so viele Deutsche Angst, ihre Meinung frei zu äußern, wie heute.
Scholz: Das ist in der Tat ein Problem, das alarmieren muß; ganz unbestreitbar. Doch hängt das weniger mit dem Staat zusammen als vielmehr mit unserer Medienlandschaft, die politisch sehr einseitig geworden ist, ja in Ansätzen an die Zwangspädagogik einer vor allem linksgestrickten Meinungsdiktatur erinnert. Die hiesigen Gefahren bestehen zudem in der Tendenz, in der politischen Auseinandersetzung immer weniger mit Argumenten und immer mehr mit bloßen Polemiken zu operieren. Trotzdem befinden wir uns nicht in einer Krise unserer Demokratie, und da sollten Sie auch nicht übertreiben. Doch damit das auch so bleibt, müssen die Warnungen vor Entwicklungen, wie wir sie hier besprochen haben, sehr ernst genommen werden!
Prof. Dr. Rupert Scholz, hatte bis 2005 den Lehrstuhl für Finanz-, Staats- und Verwaltungsrecht in München, davor den für Öffentliches Recht an der FU Berlin inne und ist Mitherausgeber des führenden Dürig/Herzog/Scholz-Grundgesetz-Kommentars. Zudem bekleidete der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete und Vizefraktionsvorsitzende von 1988 bis 1989 das Amt des Bundesministers der Verteidigung und von 1981 bis 1988 das des Senators für Justiz in Berlin, wo er 1937 geboren wurde.