© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/23 / 20. Januar 2023

Der Flaneur
Der Baum muß raus
Paul Leonhard

Es heißt Abschied nehmen. Draußen steht ein orangefarbener Container, und die Männer von der Müllabfuhr haben ihn schon zweimal geleert. Selbst die Russen und Ostukrainer haben inzwischen ihre Feste gefeiert. 

Also versammle ich die kleine Familie in der guten Stube und schalte noch einmal die Beleuchtung ein. Der Baum, eine kleine, gut gewachsene Nordmanntanne, leuchtet in aller Pracht. Dann prustet mein kleiner Sohn los. „Guck mal, wie sentimental Papa schaut“, sagt er zu meiner Frau. Und seine Schwester äfft mich kichernd nach. 

„Der fliegt jetzt raus“, sagte ich und deute erst auf den Baum, dann auf den Balkon und schließlich auf die Wiese unten. Jetzt schreitet meine Tochter ein. Was aus den Kugeln, Engeln, Pilzen und Vögeln werde, ob die auch weggeworfen werden, will sie wissen. Und plötzlich beginnt sie die dicht mit Nadeln bedeckten Zweige zu streicheln. Sie nimmt tatsächlich Abschied. Meine Frau und der Sohn sind da schon wieder weg.

Die Kinder stehen sprachlos vor dem Puppenhaus, in dem ein kleiner Soldat in dem Sessel sitzt.

Töchterchen und ich sammeln die Schmuckstücke von den Ästen. Es sind alte, noch von meinen Großeltern stammende; ein paar ganz neue, die meine Frau geschenkt bekommen hat, einige unbekannter Herkunft, und einige wurden im Kindergarten gebastelt. Alles wird in einer beschrifteten Kiste verstaut. Dann gilt es noch einen Luftlandekommando-Chap-Mei-Polizisten und -Soldaten zu retten, der sich samt Helikopter und Einsatzfahrzeugen – nahezu perfekt getarnt – versteckt hat.

Warum wünschen sich Jungs Actionfiguren und Mädchen eine Puppenstube? Mein Vater hat als Achtjähriger auch mit kleinen Soldaten gespielt, mitten im Krieg. Zwei Dutzend samt Blechkanonen stehen noch im Keller. Nur ich, die Friedensgeneration, habe derartiges nie geschenkt bekommen, so sehr ich es mir als Kind auch gewünscht habe. Dafür durfte ich später einen richtigen Panzer fahren.

Am nächsten Morgen ist der Weihnachtsbaum verschwunden. Die Kinder stehen sprachlos vor dem Puppenhaus. Dort lümmeln in den Sesseln kleine Soldaten und schauen fern. „Ich war das nicht“, sagt mein Sohn. Ich grinse. Der Papa hat nachts heimlich mit den Soldaten gespielt, aber das muß niemand wissen.