© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/23 / 20. Januar 2023

Die Freiheit des Einzelnen gegen das Recht auf Leben
Die umstrittene Grundsatzentscheidung zum Abtreibungsrecht im Fall „Roe vs. Wade“ beeinflußt bis heute die US-Debatte zum Lebensschutz
Marcel Waschek

Norma McCorvey hatte kein leichtes Leben. Sie wurde 1947 in Simmesport, Louisiana geboren. Der Vater erzog seine Kinder streng nach den Glaubensvorstellungen der Zeugen Jehovas, verließ die Familie aber, als Norma 13 Jahre alt war. Die Mutter, eine Alkoholikerin, schlug die Kinder regelmäßig. Mit zehn Jahren riß McCorvey von zu Hause aus, wurde aber zurückgebracht. Nach Mißbrauchserfahrungen in der Jugend und einer Trennung von ihrem gewalttätigen Ehemann zog sie zu ihrer Mutter. Da sie Suchtprobleme entwickelte, gab ihre Mutter McCorveys erstes Kind zur Adoption frei und setzte ihre Tochter auf die Straße. Ihr zweites Kind gab sie selbst zur Adoption frei. Als sie 1969 mit ihrem dritten Kind schwanger wurde, gab sie fälschlicherweise an, vergewaltigt worden zu sein, um legal nach texanischem Gesetz abtreiben zu können. Dies wurde ihr aufgrund fehlender Beweise verweigert. Die Anwältinnen Linda Coffee und Sarah Weddington suchten zu dieser Zeit nach Frauen, welche eine Abtreibung vornehmen wollten. Daher bot sich der Fall von Norma McCorvey für sie an. Coffee und Weddington stellten im März 1970 eine Klage gegen Henry Wade, den District Attorney (vergleichbar mit einem Staatsanwalt auf örtlicher Ebene) von Dallas, da dieser für die Aufrechterhaltung des Abtreibungsverbotes in Dallas verantwortlich war. Die Klientin McCorvey wurde in der Klage als Jane Roe bezeichnet, um ihre Identität zu schützen. 

Abtreibung bis zum sechsten Monat wurde praktisch legalisiert

Im Mai 1970 wurde der Fall vor dem Gericht von Dallas verhandelt. Das Gericht befand, daß ein Abtreibungsverbot gegen die Verfassung verstoße, aber von texanischem Gesetz gefordert sei. 1971 und 1972 wurde der Fall vor dem United States Surpreme Court (dem Obersten Bundesgericht) verhandelt. Mit einer Sieben-zu-zwei-Mehrheit wurde am 22. Januar 1973 beschlossen, daß Bundesstaaten die Abtreibung nicht verbieten dürfen. Dabei müsse beachtet werden, daß die Freiheit des Einzelnen gegen das Recht auf Leben abgewogen werden sollte. So war nach dem ursprünglichen Entwurf eine Abtreibung in den ersten zwei Schwangerschaftsdritteln erlaubt, da eine Abtreibung unter ärztlicher Aufsicht zu diesem Zeitpunkt keine übermäßige Gefahr für das Leben der werdenden Mutter darstelle. Ab dem dritten Trimester der Schangerschaft sei eine Abtreibung nicht mehr zulässig, da mit den damaligen Möglichkeiten ein Kind zu diesem Zeitpunkt als überlebensfähig galt und eine solche Abtreibung das Lebensrecht des Kindes mißachten würde, außer es bestehe eine Gefahr für das Leben der werdenden Mutter.

Bei dem Urteilsbeschluß berief sich der Oberste Gerichtshof auf den 14. Zusatzartikel der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. Dieser regelt unter anderem den Schutz des Bürgers vor Eingriffen des Staates. Da 1965 beschlossen worden war, daß der Staat den Verkauf von Verhütungsmitteln nicht verbieten dürfe, weil dies ein Eingriff in das intime Leben seiner Bürger sei, beriefen sich die Richter 1973 ebenfalls darauf, daß die Fortpflanzung und Sexualität Bestandteile des intimen Lebens der Bürger seien und daher nicht vom Staat angetastet werden dürften. Einzig das Lebensrecht des Ungeborenen könne dies einschränken. Dies greife aber erst mit der eigenständigen Lebensfähigkeit des Kindes.

Das Urteil erregte innerhalb der USA großen Widerspruch, bekam aber auch Zuspruch. Besonders die Abtreibungsbefürworter, darunter die „Playboy Foundation“, begrüßten das Urteil, da es modern sei und die Reproduktionsrechte von Frauen stärke. Die Gegner des Urteils argumentierten mit dem Lebensrecht, das allen Menschen, ob geboren oder ungeboren, zustehe. Darüber hinaus wurde von säkularen und kirchlichen Gruppen ein sittlicher Verfall befürchtet. Viele Kritiker sehen das Urteil als unzulässige Einmischung der Judikative in die Sphäre der Legislative. 1992 wurde das Urteil vom Obersten Gerichtshof eingeschränkt und 2021 aufgehoben.

Norma McCorvey wandte sich ab 2004 christlichen Abtreibungsgegnern zu und unterstützte den republikanischen Präsidentschaftskandidaten Ron Paul wegen seiner Anti-Abtreibungs-Position. Shelley Lynn Thornton, das Kind, das den Anstoß zu Roe v. Wade gab, ist verheiratet und Mutter dreier Kinder.