Als Joseph Görres am 29. Januar 1848, wenige Wochen vor Ausbruch der französischen Februar- und der deutschen März-Revolution, in München starb, war er sich gewiß, in einer schweren Zeit zu leben, die aber eine noch schwerere ablösen werde. Diese Prognose des 1776 geborenen Intellektuellen, dem das „Revolutionszeitalter“ zwischen 1789 und 1848 immerhin schon einiges an Eruptionen, Katastrophen und Kriegen geboten hatte, ist im 20. Jahrhundert eindrucksvoll bestätigt worden.
Ob der 1776 in Koblenz als Sohn eines Holzhändlers geborene Görres zu „den gewaltigsten Deutschen des 19. Jahrhunderts“ zählte, wie der Klages-Apostel Hans Kern noch 1936 behauptete, darf man zwar bestreiten. Doch zweifellos ist der wie ein katholischer Ernst Moritz Arndt wirkende Publizist der Befreiungskriege, „der Schöpfer der modernen politischen Zeitung“ (Wilhelm Schellberg, 1911), der romantische Philosoph und gelehrte Mystiker zu den „großen Deutschen“ zu rechnen, an denen gerade in seiner, der Generation Hegel, Hölderlin, Schelling, kein Mangel herrschte.
Begonnen hatte der konservative Vorkämpfer des deutschen Katholizismus als Parteigänger jener Invasion französischer Jakobiner, die zur Freude des jungen, gegen die „Pfaffenherrschaft“ agitierenden Jesuitenschülers 1793 das Regime seines Landesherrn, des Kurfürst-Erzbischofs von Trier beseitigten. Als Pressechef der Cisrhenanen, die wie die Separatisten während des Ruhrkampfs von 1923, eine rheinische Republik anstrebten, träumte Görres von einem „Burgundien“, einem Deutschland und Frankreich verbindenden Zwischenreich, für das die Okkupanten sich nicht interessierten. Stattdessen errichteten sie in den besetzten linksrheinischen Gebieten ihr Gewaltregime, gegen das der junge Görres als gewählter Sprecher seiner Heimat im Herbst 1799 in Paris Beschwerde führte, just in dem Moment, als der Staatsstreich Napoleons die letzten institutionellen Hinterlassenschaften von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ schleifte.
„Wiedergeburt Teutschlands“ sollte eher moralisch als politisch sein
Vor diesem Hintergrund erkannte Görres, daß das mit dem Sturm auf die Bastille begonnene „Experiment“ von 1789 endgültig gescheitert war. „Görres kam nach Paris als Revolutionär und Weltbürger, er ging als deutscher Nationalist“ (Golo Mann, 1956). Der mit seiner hochspekulativen „Polaritätsmetaphysik“ den Rationalismus der Aufklärung und ihren Fortschrittsoptimismus negiert. Er war fortan überzeugt davon, daß es keine Freiheit schlechthin, sondern nur eine jedem Volk eigentümliche gebe. Da nicht einmal grundverschiedene Nachbarn, Deutsche und Franzosen, sich „vermischen“ könnten, würden kosmopolitische Weltverbrüderungsideen erst recht nicht jemals in einer universalen Menschheitsrepublik Wirklichkeit werden. „Die wahren Grenzen sind nicht an Berge und Wasser gebunden, sondern laufen durch die Völker, da wo die Scheiden der Sprache, Sitten, Gesinnungen und Gemütsanlagen sind.“
Bis 1806 lebte der Desillusionierte als Gymnasiallehrer wieder in Koblenz, wechselte dann nach Heidelberg, wo der Autodidakt, der nie eine Universität besucht hatte, an der Ruperto Carola sogleich zum Professor aufrückte, der als „gewaltiger Dilettant“ ein so enzyklopädisches wie „wahnsinniges“ (Schelling) Vorlesungspensum absolvierte, das spekulative Physik und Physiologie ebenso abdeckte wie Philosophie und altdeutsche Literatur. Während dieses Heidelberger Intermezzos profilierte sich Görres neben Achim von Arnim und Clemens Brentano als produktivster Exponent der „Jüngeren Romantik“. Und der lässige Katholik Görres wandelt sich zum „Pantheisten im Goetheschen Sinne“ (Hans Kern).
1808 geht es vom Neckar wieder zurück an den Rhein, ins Koblenzer Lehramt. Die sich anschließenden „schlimmen Napoleon-Jahre“, die, wie Golo Mann relativiert, der Patriot Görres, anders als der „Franzosenfresser“ Arndt, „zeitweise für etwas Endgültiges mit dem man wohl oder übel auszukommen hatte“ annahm. Die damals veröffentlichten Vorschläge zur „Wiedergeburt Teutschlands“ zielten daher eher auf eine moralische als auf eine politische Erneuerung der unfertigen Nation. Deren Glieder müßten einsehen, sich gemäß der Ideen von 1789 nicht als „Einzel-Iche“ zu verstehen, denn nur die bewußte Zugehörigkeit zur ethnisch-kulturell determinierten Schicksalsgemeinschaft eines Volkes verbürge den staatlichen Zusammenhalt, nicht abstrakte Menschenrechte und universale Vernunft, die zwar jedermann eigen seien, aber nur schwache soziale Bindekraft entfalten. Entsprechend untermauert wird solcher Anti-Individualismus durch eine Geschichtsauffassung, die den Blick vom angeblichen freien Tun des einzelnen weg auf das Kommen und Gehen der Geschlechter richtet und „das Gefühl der Verbundenheit aller Zeiten nach rückwärts“ wecken soll.
Praktisch begriff er 1812/13, als Napoleons Herrschaft über den Kontinent zerbrach, zunächst gar nicht, was geschah. Erst als der Welteroberer geschlagen wieder in Paris saß, betrat Görres im Januar 1814 abermals die politische Arena, als Herausgeber der Zweitageszeitung Rheinischer Merkur, die sich im Endkampf gegen Napoleon zur „fünften alliierten Großmacht“ mauserte. Dieses Sprachrohr des preußischen Reformers Freiherr vom Stein, des Chefs der Zentralverwaltung der von den französischen Okkupanten befreiten Gebiete, forderte die Überwindung der deutschen Kleinstaaterei, ein gemeinsames Steuersystem und ein gemeinsames Heer, ein oberstes Bundesgericht sowie die Rückgliederung der Rheinlande und des Elsaß. Allerdings auch die hoffnungslos romantische Wiederherstellung des 1806 abgewickelten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation unter einem Habsburger-Kaiser.
Als Görres im Merkur auch Preußen angriff, dessen Beamte schwere Fehler bei der Verwaltung der ihm auf dem Wiener Kongreß zugesprochenen Rheinprovinz machten, und zudem vom König die avisierte Verfassung einforderte, ließ Friedrich Wilhelm III. den Merkur Anfang 1816 verbieten. Die Streitschrift „Teutschland und die Revolution“ (1819), die alle seit 1815 begangenen Mißgriffe der preußischen Regierung anprangerte, ließ es Görres geraten erscheinen, vor deswegen drohender Verfolgung ausgerechnet im deutschen, aber zu Frankreich gehörenden Straßburg Zuflucht zu suchen. Hier begann seine eigentlich katholische Epoche, wobei er sich als „recht schwieriger Katholik“ (Hans Kern) inszenierte. Nicht als Exponent der ultramontanen Richtung, nicht als „Römling“, sondern als weitherziger Christ, der die Wahrheit beider Konfessionen gelten ließ. Als politischer Publizist, der als „echter Hasser“ einen „aggressiven Journalismus mit biblischem Ton“ verband, blieb Görres „liberal“ – ein Feind der Allmacht des Staates in seiner demokratisch-parlamentarischen wie in der monarchisch-absoluten Form, stets darauf bedacht, den „öffentlichen Geist“ zu heben, den der kulturpessimistische Zeitdiagnostiker um 1840 bereits weniger vom Staat als vom „klappernden Mechanismus“ des kapitalistischen Maschinen- und Massenzeitalters bedroht sah.
Foto: Johann Joseph Görres: Schicksalsgemeinschaft bürgt für staatlichen Zusammenhalt