Am 22. Januar 1963 wurde im Pariser Amtssitz des französischen Präsidenten, dem Élysée-Palast, der „Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit“, kurz Élysée-Vertrag, unterzeichnet. Nach offizieller Lesart beendete dieser „Freundschaftsvertrag“ die „Erbfeindschaft“ zwischen Deutschen und Franzosen. Das ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Denn die nüchtern denkenden Staatsmänner, die den Élysée-Vertrag ins Werk setzten – der damalige französische Staatspräsident Charles de Gaulle und der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer – hielten wenig von Gefühlspolitik.
Für de Gaulle wie für Adenauer ging es in erster Linie um einen Neuansatz nach dem Scheitern der Verhandlungen zwischen den sechs Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zur Bildung einer engeren Union. Die Hauptursache für diesen Fehlschlag war die Unvereinbarkeit der verschiedenen Interessenlagen: das Festhalten der Niederlande, Belgiens, Luxemburgs und Italiens – unterstützt von den USA – an der Aufnahme Großbritanniens in die EWG, de Gaulles entschlossener Widerstand gegen diese Absicht, da er von einer Einheitsfront der Angelsachsen ausging, und der Versuch Adenauers, sich Frankreich anzunähern, ohne im Hinblick auf den Beitritt Londons ganz deutlich zu werden und durch einen konsequenten Bilateralismus Washington vor den Kopf zu stoßen.
Keine Seite gab sich Illusionen hin, daß die andere uneigennützig sei
Ungeachtet dessen drängte Adenauer bei den Verhandlungen im Vorfeld des Élysée-Vertrags darauf, nicht nur – wie ursprünglich vorgesehen – ein gemeinsames Protokoll auszuarbeiten, sondern ein völkerrechtlich verbindliches Abkommen zu schließen. Das sah neben der Schaffung eines Deutsch-Französischen Jugendwerks und der Förderung von Partnerschaften zwischen Städten und Schulen die regelmäßige Abstimmung zwischen den Regierungschefs, aber auch den Außenministern der Bundesrepublik und Frankreichs in entscheidenden politischen Fragen vor.
Was sich da als deutsch-französische „Entente cordiale“ abzeichnete, irritierte viele Beobachter. Angesichts der Belastungen aus Kriegs- und Nachkriegszeit schien eine „Liebesaffäre“ (Hans-Peter Schwarz) beider Länder kaum vorstellbar. Um so überraschender wirkte die herzliche Atmosphäre beim Staatsbesuch Adenauers in Frankreich im Juli 1962, der mit einer gemeinsamen Parade deutscher und französischer Truppen und einem feierlichen Tedeum in der Kathedrale von Reims endete, an dem der Kanzler gemeinsam mit de Gaulle teilnahm. Im September reiste de Gaulle seinerseits durch die Bundesrepublik und überraschte nicht nur mit Reden in deutscher Sprache, sondern auch mit Bekundungen des Respekts für die Größe des deutschen Volkes und die Anerkennung, daß über die Vergangenheit weniger in Kategorien der Schuld, eher in Kategorien der Tragik gesprochen werden sollte.
Trotzdem gab sich keine Seite der Illusion hin, daß die andere uneigennützig an der Schaffung einer „Achse“ Paris-Bonn arbeitete. Während es de Gaulle vor allem darum ging, die westdeutsche Wirtschaftskraft für den Aufbau der französischen Force de frappe zu nutzen und die EWG zu einem eigenständigen weltpolitischen Faktor unter französischer Führung zu entwickeln, erwartete Adenauer, daß seine Annäherung an Frankreich die USA hindern werde, die Politik der „Détente“ – „Entspannung“, dazu zu nutzen, um über die Bundesrepublik hinweg den Ausgleich mit der Sowjetunion zu suchen.
Dabei kam eine politische Fixierung Adenauers ins Spiel, deren Bedeutung oft übersehen wird: seine Angst vor einem „Super-Versailles“, das die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs gegen die Deutschen durchsetzen könnten. Auch Adenauer hat deshalb gelegentlich mit dem Gedanken gespielt, Europa zu einer „dritten Macht“ – neben den USA und der Sowjetunion – auszubauen, fand dafür aber innenpolitisch kaum Rückhalt. Deutlich zeigte sich das auch bei den Auseinandersetzungen im Kabinetts über die Ratifizierung des Élysée-Vertrags, die am 2. Juli 1963 durch den Bundestag vollzogen wurde. In Reaktion auf Vorhaltungen der US-amerikanischen Seite und nachdem de Gaulle verhindert hatte, daß der Begriff „Nato“ im Vertrag vorkam, ergänzte man den Text um eine Präambel, die nicht nur ein Bekenntnis zur Allianz mit den Vereinigten Staaten enthielt, sondern auch die Unterstützung für die Aufnahme Großbritanniens in die EWG und den Beitritt zum Freihandelsabkommen GATT zur Zielsetzung erklärte.
Bundeskanzler Erhard wechselte die außenpolitische Richtung
De Gaulle reagierte empört auf diesen „Verrat“, ohne doch etwas gegen das Scheitern seiner Strategie tun zu können. Denn Adenauers Nachfolger Ludwig Erhard war ausgesprochen anglophil. Er tat alles, um die Beziehungen zwischen Bonn und Wa-shington zu verbessern und zeigte keine Neigung, de Gaulle zu folgen, der die französische Atomstreitmacht unter nationaler Kontrolle hielt und schließlich – am 1. Juli 1966 – Frankreich aus der integrierten Kommandostruktur der Nato abzog. Ein Schritt, der von der Bundesregierung, aber auch in großen Teilen der westdeutschen Öffentlichkeit kritisiert wurde. Die „Atlantiker“ repräsentierten ohne Zweifel die politische Mehrheit, aber es gab auch „Gaullisten“ innerhalb und am Rande der Union, die opponierten. Sie bildeten zwar keine kompakte Einheit und folgten verschiedenen Motiven, besaßen aber durchaus Einfluß.
Dabei spielten ältere konfessionelle Differenzen noch eine Rolle – die Köpfe der Atlantiker waren Protestanten, die der Gaullisten mehrheitlich Katholiken –, aber als entscheidend erwies sich der Unterschied zwischen „Regierungs-“ und „echten“ Gaullisten (Peter Hoeres). Da gab es etwa die Gruppe um den katholisch-konservativen CSU-Abgeordneten Karl Theodor zu Guttenberg, der in Frankreich vor allem einen Partner für die Wiederaufnahme des „karolingischen“ Projekts einer „abendländischen“ Gemeinschaft sah und von der wichtigen Wochenzeitung Rheinischer Merkur unterstützt wurde. Einen gewissen Flankenschutz boten auch die Vertriebenenverbände, wenngleich sie bei de Gaulles Bekenntnis zur Wiedervereinigung offenbar übersahen, daß er ausdrücklich die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie verlangte.
Sehr viel deutlicher als die „Regierungs-Gaullisten“ nahmen die „echten Gaullisten“ Stellung. Zu ihnen gehörte der FAZ-Gründungsherausgeber und spätere Welt-Journalist Paul Sethe, ein Veteran der Neutralitätsidee, der sich durch den Kurs de Gaulles in seiner Annahme bestätigt fühlte, daß die westdeutsche Außenpolitik während der fünfziger Jahre – etwa im Zusammenhang der Stalin-Noten – Chancen verpaßt hatte. Eine Argumentation, mit der Sethe in der Nähe anderer Publizisten wie Peter Scholl-Latour, Hans-Georg von Studnitz, Walter Petwaidic-Fredericia oder Elimar von Fürstenberg stand, die aus ihrer Bewunderung für de Gaulles Politikstil und das Verfassungsmodell der Fünften Republik mit ihren autoritären wie plebiszitären Elementen keinen Hehl machten. Allerdings hat sich nur der Schweizer Armin Mohler mit letzter Konsequenz für einen „deutschen de Gaulle“ eingesetzt, zumal er glaubte, einen Kandidaten für die Vakanz nennen zu können: den CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß.
Mohler war überzeugt, daß sich Strauß nach der Spiegel-Affäre und seinem Rücktritt als Bundesminister nur im Wartestand befinde und auf seine Stunde warte. Hinzu kam, daß Strauß schon seit seiner Zeit als Atomminister dagegen opponiert hatte, die Bundesrepublik von der Verfügung über Nuklearwaffen auszuschließen. Durch Adenauer gedeckt, leitete er dann als Verteidigungsminister die Kooperation mit Frankreich und Italien ein, um den Aufbau einer selbständigen kontinental-europäischen Atomstreitmacht voranzutreiben. Ein Projekt, das letztlich daran scheiterte, daß de Gaulle in der ersten Zeit nach seinem Amtsantritt 1958 alles tat, um eine Stärkung der Bundesrepublik zu verhindern.
Die Situation änderte sich grundlegend als Folge von Kuba- und Berlinkrise. Vorgänge, die de Gaulle überzeugten, daß Frankreich eine selbständigere Rolle in der Weltpolitik nur würde spielen können, wenn es dazu Rückhalt an der westdeutschen Ökonomie gewann, und die in Strauß den Gedanken belebten, daß die Bundesrepublik zwar nicht vom Schutzschirm der USA gelöst werden sollte, Bonn aber aufhören müsse, „den atlantischen Musterknaben zu spielen“. Der Abschluß des Élysée-Vertrags hätte durchaus ein Schritt in diese Richtung sein können. Aber zu dem Zeitpunkt war Strauß isoliert, und die Politische Klasse der Bundesrepublik weder willens noch fähig, ihn zu gehen. Die tiefere Ursache dafür hat Mohler in seiner gaullistischen Programmschrift „Was die Deutschen fürchten“ auf eine knappe Formel gebracht: „Angst vor der Politik – Angst vor der Geschichte – Angst vor der Macht“.
Élysée-Vertrag
Der am 22. Januar 1963 unterzeichnete „Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit“ vereinbarte einen verbindlichen bilateralen Konsultationsmechanismus, der auf höchster Ebene zwischen Präsident und Kanzler als auch auf Ministerebene beider Staaten die Zusammenarbeit verstetigen soll. Mindestens zweimal jährlich sollen sich dazu die Staats- und Regierungschefs treffen, die Außenminister mindestens alle drei Monate, Direktoren anderer Ministerien sogar monatlich.
Beide Länder werden zudem dazu verpflichtet, sich in allen wichtigen Fragen der Außen-, Europa- und Verteidigungspolitik abzusprechen und – wenn möglich – zu einer gemeinsamen Haltung zu gelangen.
Eine gemeinsame Erziehungs- und Jugendpolitik soll eine Brücke für die Zukunft schlagen. Dazu gehört die Gründung (Juli 1963) des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW), das jedes Jahr Treffen zwischen Jugendlichen beider Völker ermöglicht. (bä)