© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/23 / 20. Januar 2023

Der Wandel der Grundrechte hin zum postdemokratischen Erziehungsstaat
Umstürzler in Roben
Ulrich Vosgerau

Zu den pessimistisch stimmenden Erfahrungen meiner nunmehr über 25jährigen wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Verfassungsrecht gehört die Beobachtung des Umstandes, daß die Verfassung ihren Zweck, feste und unhintergehbare Regeln für den Verkehr des Staates mit den Bürgern aufzustellen, offenbar nicht erfüllen kann. Jedenfalls dann nicht, wenn es an einem selbstbewußten, politisch interessierten, und rechtlich informierten Bürgertum mangelt, das die individuelle Rede- und Handlungsfreiheit konsequent verteidigt, statt nur noch nach einem „bedingungslosen Grundeinkommen“ zu rufen.

Die großen Veränderungen im Verfassungsrecht der letzten Jahre und Jahrzehnte haben nichts mit Veränderungen des Verfassungstextes zu tun, sondern mit der Umdeutung des unveränderten Textes. So hätte bis weit in die 1990er Jahre hinein jeder Jurist, der danach gefragt wurde, worin die praktische Bedeutung der Menschenwürdegarantie aus Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes liegt – denn Fälle von wirklicher oder angedrohter staatlicher Folter sind ja doch eher selten – im Hinblick auf die beiden Abtreibungsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts von 1975 und von 1993 geantwortet: sie liegt darin, daß die Abtreibung nicht für rechtmäßig, sondern allenfalls, in bestimmten Ausnahmefällen, für entschuldigt oder für straffrei erklärt werden darf.

 Denn vor dem Hintergrund der Menschenwürdegarantie konnte es kein Recht auf die vorsätzliche Tötung des ungeborenen Kindes geben. Heute hingegen besteht in Gestalt der kombinierten Fristen- und Indikationslösung de facto längst ein Recht auf Abtreibung, geschmälert allenfalls durch die Beratungspflicht. Am Wortlaut des Grundgesetzes mußte dafür nichts verändert werden. Und an der Menschenwürdegarantie könnte auch nichts geändert werden, weil sie der Selbstbestimmungsgarantie des Grundgesetzes (Artikel 79 Absatz 3) unterfällt, mithin dem verfassungsändernden Gesetzgeber nicht zur Disposition steht, sondern nur dem Volk im Wege der Verfassungsrevolution.

Eine ähnliche verfassungsrechtliche Totalrevision ohne Änderung des Gesetzestextes hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts im Frühjahr 2021 in Gestalt des Klimaschutz-Beschlusses vorgenommen.

Die grundgesetzliche Feststellung, daß der Staat auch „die natürlichen Lebensgrundlagen“ „im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung (...) nach Maßgabe von Recht und Gesetz“ schütze, wurde 1994 in Artikel 20a aufgrund reiflicher Überlegungen nur als Staatszielbestimmung gefaßt. Das heißt, die neue verfassungsrechtliche Norm ändert nichts, solange der Gesetzgeber nicht die Gesetze in Richtung Umweltschutz neu faßt. Tut er dies, so spräche im Rahmen einer verfassungsrechtlichen Abwägung die Staatszielbestimmung tendenziell für eine möglichst umweltschützende Gesetzgebung.

Nichtsdestotrotz hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts bereits im Frühjahr 2021 dieser Vorschrift umfangreiche Verpflichtungen des Gesetzgebers zu rigiden „Klimaschutz“-Maßnahmen entnommen. Alle Grundrechte sollen offenbar künftig unter dem Vorbehalt der Klimaverträglichkeit stehen, und zwar zum Schutz der Grundrechte künftiger Generationen, die der bisherigen Grundrechtsdogmatik als Grundrechtsträger nicht einmal bekannt waren. So wird aus einer reinen Staatszielbestimmung im Wege revolutionärer Umdeutung ein Universalvorbehalt für alle Grundrechte, den nicht der demokratisch legitimierte Gesetzgeber ausfüllt, sondern das Bundesverfassungsgericht unter Berufung auf selbstgewählte Experten.

Umgekehrt bleiben auch Änderungen des Verfassungstextes unbeachtet, sobald sie dem medial verkündeten Elitekonsens nicht mehr entsprechen. So gilt seit dem „Asylkompromiß“ von 1992/93 – also der Einführung des Artikels 16a Grundgesetz – eigentlich, daß auf dem Landweg nach Deutschland einreisende Asylbewerber, die unweigerlich mehrere sichere Drittstaaten durchquert haben, in Deutschland nicht asylberechtigt sind. Diese Vorschrift wird bekanntlich nicht erst seit der „Großen Grenzöffnung“ von 2015/16 meist ignoriert. In diesen Jahren begannen die Mißstände erst aufgrund der Masse der Fälle öffentliche Aufmerksamkeit zu erlangen.

Auch der Vorschrift aus Artikel 33 Absatz 2 des Grundgesetzes – die ausnahmslos bestimmt, daß es bei der Einstellung in den öffentlichen Dienst nur auf „Eignung, Befähigung und fachliche Leistung“ ankommen kann und Quoten oder sonstige Fördermaßnahmen ausgeschlossen sind – hat der Staat längst die Gefolgschaft aufgekündigt. Die bevorzugte Einstellung von Frauen bei „gleicher“ Qualifikation ist im öffentlichen Dienst inzwischen so gängig, daß man von einer Art „verfassungswidrigem Gewohnheitsrecht“ sprechen könnte. Darüber hinaus kündigen Kommunen und ganze Bundesländer, wie etwa Hannover oder Berlin, inzwischen auch „Migrantenquoten“ im Staatsdienst an. Dies wird nur selten als Verfassungsproblem erkannt.

Freilich ändert sich die Auslegung von Rechtsbegriffen mit der Zeit infolge des Wandels des Zeitgeistes. Aus gutem Grund gibt es im kontinentaleuropäischen Recht nicht das Präjudiziensystem, das tendenziell die Rechtsauffassung früherer Zeiten versteinert. So hat das Bundesverfassungsgericht noch 1957 befunden, die Verurteilung eines männlichen Homosexuellen zu einer Zuchthausstrafe wegen gleichgeschlechtlicher Unzucht verletze nicht dessen Grundrechte, weil sich der Grundrechtsschutz von vornherein nicht auf Handlungen erstrecke, die das Sittengesetz verletzen. In der Tat enthält Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes eine solche Einschränkung. Die heute herrschende Kommentarliteratur löst das Problem durch die Doktrin, der Verweis auf das Sittengesetz bedeute per se gar nichts, solange der Gesetzgeber ihn nicht durch geltendes Recht ausgefüllt habe, jeder Versuch, die Vorschrift naturrechtlich „beim Wort“ zu nehmen, verstoße nämlich gegen die Grundsätze der parlamentarischen Demokratie.

Denn in einer Demokratie bestimmt der gewählte Gesetzgeber, was erlaubt und was verboten ist. Demokratische Legitimation und Rechtspositivismus gehen insofern Hand in Hand. Demgegenüber soll aber – im Klimaschutzbeschluß – das angebliche Staatsziel „Klimaschutz“ (das im Wortlaut der Vorschrift nicht einmal vorkommt) – keiner weiteren Konkretisierung mehr bedürfen, um als Universalvorbehalt der Grundrechte den Gesetzgeber zu drakonischen Klimaschutzmaßnahmen nicht nur zu berechtigen, sondern sogar zu verpflichten.

Parallel zur neuen „Grundrechte nur, soweit vertretbar“-Rechtsprechung des Ersten Senats (die auch dessen Corona-Rechtsprechung geprägt hat) wird derzeit das gesamte System grundrechtlichen Rechtsschutzes durch staatlich finanzierte „Nichtregierungsorganisationen“ wie etwa das „Deutsche Institut für Menschenrechte“ auf den Kopf gestellt. Dieses produziert fortlaufend Texte, die sich als „Rechtsgutachten“ gerieren, und verschickt diese offensichtlich sogar an Verwaltungsgerichte.

Es sind aber keine Gutachten, da sie nicht etwa verschiedene mögliche Auslegungen des Rechts erläutern, sondern vielmehr die angeblich richtige Deutung grundrechtlicher Vorschriften politisch aufdrängen. In diesen Darlegungen – die erschreckenderweise insbesondere bei den Verfassungsschutzbehörden erheblichen Anklang finden – wird den Grundrechten eine völlig andere Bedeutung beigelegt, als sie sie in einer freiheitlichen Demokratie haben. Wird hier ein postdemokratischer Erziehungsstaat vorbereitet?

Grundrechte sind nämlich Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Sie dienen dem Schutz der Privatautonomie. Die Grundrechte richten sich ausschließlich an den Staat und nicht an den Bürger. Nur der Staat ist an die Meinungsfreiheit, die Gleichberechtigung der Geschlechter und so weiter gebunden. Der Bürger muß sich nicht an das Grundgesetz, sondern nur an die einfachen Gesetze halten, wie sie etwa im Strafgesetzbuch oder im Bürgerlichen Gesetzbuch aufgeführt sind. Daher kann sich ein Bürger – auch wenn man dies dauernd in Verfassungsschutzberichten so liest – gar nicht „verfassungswidrig“ verhalten, sondern allenfalls „verfassungsfeindlich“.

Nur der Staat, nicht aber der Bürger muß „auf dem Boden des Grundgesetzes“ stehen. Während der Staat nämlich nach dem Grundgesetz für alle seine Handlungen einer gesetzlichen Ermächtigung bedarf, wird die Freiheit des Bürgers als natürlich und dem Grundgesetz vorausliegend vorausgesetzt. Es ist daher Unsinn – wenn es auch meist in bester Absicht geschieht –, einem Mitbürger zu bescheinigen, seine Meinungsäußerungen seien „(noch) von der Meinungsfreiheit gedeckt“. Denn das müssen sie nicht sein. Der Bürger bedarf zum Reden keiner gesetzlichen Ermächtigung! Nur dürfen seine Äußerungen eben nicht rechtswidrig sein, wie dies etwa bei unwahren Tatsachenbehauptungen oder Beleidigungen der Fall ist.

In der neuen Deutung des „Deutschen Instituts für Menschenrechte“ und der Verfassungsschutzbehörden werden Grundrechte hingegen von staatsgerichteten Abwehrrechten zu einem Tugendkatalog für die Bürger, über dessen Einhaltung der Staat wacht. Deren Meinungsäußerungen sollen nur noch zulässig sein, wenn sie unabhängig von ihrer Legalität – so die Diktion des „Deutschen Instituts für Menschenrechte“ – als „gleichberechtigt und legitim“ gelten dürfen. In einem vor einem Landesverfassungsgericht von mir geführten Verfahren ließ ein Landtag durch eine spezialisierte Rechtsanwaltskanzlei vortragen, jeder Bürger sei zur Bejahung der „objektiven Wertentscheidungen des Grundgesetzes“ (so, wie die Obrigkeit oder von ihr bezahlte NGOs sie eben gerade verstehen) verpflichtet, weil ausweislich der Präambel des Grundgesetzes das Deutsche Volk „sich“ dieses Grundgesetz gegeben habe.

Hiergegen wäre zu erinnern, daß sich die „Wertentscheidungen“, die nach Auffassung von Eliten dem Grundgesetz zu entnehmen sind, wie gesehen mit der Zeit doch erheblich zu ändern vermögen. Im übrigen entspricht es in der Tat – seit der Lüth-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls von 1957 – der herrschenden Grundrechtslehre, daß die Grundrechte über ihre Funktion als staatsgerichtete Abwehrrechte hinaus auch eine objektive Bedeutung haben. Diese objektiven Grundrechtsdimensionen, die vor allem eine Auslegung auch des Privatrechts im Geiste der Grundrechte bewirken, dienen aber ebenfalls der Sicherung der Privatautonomie der Bürger. Nach der Lüth-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts soll die Meinungsfreiheit nicht nur gegen staatliche Unterdrückung, sondern auch gegen privatrechtsförmige Zensurmaßnahmen machtvoller Akteure geschützt werden. Das heißt, die „Verfassungslegitimität“ der freien Meinungsäußerung wird zum Schutz der Privatautonomie gegen die reine Legalität des Privatrechts aufgeboten. Diese Rechtsprechung wird aber auf den Kopf gestellt, wenn die objektive Seite der Grundrechte nunmehr zur Einschränkung der „Äußerungsbefugnisse“ des Bürgers herangezogen wird, wenn also Grundrechte den Staat berechtigen sollen, vom Bürger Loyalität zum verqueren Rechtsverständnis gewisser staatlicher Stellen und NGOs zu verlangen.

Wir erleben also in der Tat gerade den Versuch eines Verfassungsputsches. Er geht nur eben nicht von den „Reichsbürgern“ aus.






Dr. habil. Ulrich Vosgerau, lehrte Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht sowie Rechtsphilosophie an mehreren Universitäten.