Mit dem aufgehenden Vorhang fällt ein Schuß, mit dem Schuß beginnt das Verhängnis der Oper. Aber in der neuen Einspielung von Carl Maria von Webers Romantischer Oper „Der Freischütz“, die René Jacobs im Juni vorigen Jahres mit dem Freiburger Barockorchester und der Zürcher Singakademie erarbeitet hat, steht der Schuß gar nicht am Anfang aller Handlung. Ihm gehen zwei Auftritte voraus, Dialoge, die Weber nicht vertont hat, Musik, eine Arie und ein Duetto, deren Noten Weber entlehnt sind. Der Eingriff in Sinn und Form der Oper ist desto mehr der Erklärung bedürftig, als doch der belgische Dirigent und Countertenor René Jacobs für einen Spezialisten historisch informierter Aufführungspraxis gilt, insbesondere der Musik des Barockzeitalters.
Jacobs hält es mit Fabian Kolb, Professor an der Hochschule für Musik und Theater in Frankfurt am Main, der „vier für die romantische Oper wesentliche Ebenen im ‘Freischütz’“ unterschieden haben will: „(d)ie Ebene des Wunderbaren und Überirdischen, die Ebene des Volkstümlich-Erdverbundenen, die Ebene der ‘beseelten’ Natur (in der Malerei von Caspar David Friedrich eingeführt) und, last but not least, die Ebene des Religiösen“. Weber und seinem Librettisten Friedrich Kind konzediert Jacobs, „diese vier Schichten kongenial gegen- und durcheinander ausgespielt“ zu haben, bemängelt jedoch, daß Weber die christliche Ebene abgeschwächt habe, indem er die Rolle des Eremiten auf seinen Auftritt im Finale der Oper reduziert hat. Und daß es kaum möglich sei, den Schluß der Oper ohne die beiden ersten Auftritte des Eremiten zu Beginn zu verstehen. Das Gegenteil ist der Fall!
Die Bilder des Unheimlichen als alberner Mummenschanz
Indem Weber die beiden Auftritte des Vorspiels „Die Rosen des Eremiten“ auf dringenden Rat der Sängerin Caroline Brandt, seiner Ehefrau, kurzerhand strich, hat er die Figur des Eremiten nicht nur aufgewertet und ihr die Funktion als Deus ex machina, als Gott aus der Maschine, überhaupt erst zugewiesen, sondern die religiöse Ebene gestärkt und mit der politischen zur Deckung gebracht.
Das Wunderbare und Überirdische, das Volkstümlich-Erdverbundene, die ‘beseelte’ Natur und das Religiöse sind Chiffren für all das, was in dieser Romantischen Oper aller romantischen Opern eigentlich vorgeht, was das Momentum des Jahres 1821 ausmacht und auch 200 Jahre später nicht abgegolten ist und um all dessentwillen eben diese, und nicht etwa Beethovens „Fidelio“ oder Wagners „Meistersinger“, mit Fug und Recht als die deutsche Nationaloper gilt. Denn so viel und so wenig Beethovens verspätete Rettungsoper in einem spanischen Staatsgefängnis des 18. Jahrhunderts, Wagners Entwurf eines gelenkten demokratischen Gemeinwesens im Nürnberg um die Mitte des 16. Jahrhunderts spielen, so viel und so wenig spielt Webers Schicksalsdrama in Böhmen kurz nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges – in Nachkriegszeiten, die den Keim von Vorkriegszeiten in sich tragen, gleichwohl.
Uraufgeführt am 18. Juni, dem Jahrestag der Schlacht bei Waterloo, spielen napoleonische Besetzung und Befreiungskriege und vertagte Deutsche Frage einer Nachkriegsgesellschaft, die sich eben erst als Nation zu ordnen beginnt, in Musik, Dramaturgie, Personal allenthalben hinein. „Der Freischütz“ ist die deutsche Nationaloper schlechthin, weil sie deutsche Zustände als Seelenzustände verhandelt, in den Köpfen und über die Köpfe der handelnden Figuren hinweg, die im Singen ihr Innerstes zuäußerst, ihr Äußerstes zuinnerst kehren.
René Jacobs schwächt die Ebene des Religiösen, die er doch stärken wollte. Die Bilder des Unheimlichen, von denen die Oper durchsetzt ist, gerade überall dort, wo die Figuren sie zu verdrängen suchen, entwertet er zu albernem Mummenschanz, wenn er den Eremiten von Anfang an ins Spiel bringt. Sein Auftritt hat erst dann überhaupt Sinn, wenn das Gottvertrauen aller restlos zerstört ward.
Die Dialoge wirken wie eine Lektürehilfe in leichter Sprache
„Die Partitur des ‚Freischütz‘“, warnte Richard Wagner 1841 das Pariser Publikum vor der Rezitativ-Bearbeitung von Hector Berlioz, „ist ein vollkommenes, sowohl dem Gedanken als der Form nach, in allen seinen Teilen wohl gegliedertes Ganzes. Das Mindeste davon auslassen, heißt das nicht das Werk des Meisters verstümmeln oder entstellen?“ René Jacobs sucht ein Gleichgewicht herzustellen, wo doch die Unwucht die Physiognomie des Werkes ausmacht.
Ein von dem Librettisten Kind vorgesehenes Strophenlied für Erbförster Kuno hat Jacobs mit Musik aus Franz Schuberts Oper „Des Teufels Lustschloß“ unterlegt, die in dieser Umgebung harmlos läppisch klingt und den überaus wichtigen Dialog nach der Introduktion ruiniert. Das folgende Terzett kann erst dann seine volle Wirkung entfalten, wenn ihm der quälend lange, Max quälende, Dialog vorausgegangen ist, der übrigens mehr Information enthält, nicht allein bezüglich Herkunft und Bedeutung des Probeschusses, als es ein fades Strophenlied vermag, wenn er denn nicht, wie so viele Texte in dieser Aufnahme, gedankenlos verstümmelt worden wäre.
Und der noch so willige Hörer meint, Wagners Bericht über „Le Freischutz“ in Paris sei auf die Neufassung von Jacobs gemünzt, daß „der ‘Freischütz’ bei diesem Verfahren nicht nur, wie es vorauszusehen war, entstellt, sondern zugleich grenzenlos langweilig gemacht worden ist“. Was Jacobs von den Dialogen übrigläßt oder ergänzt, wirkt wie eine Lektürehilfe in leichter Sprache, erzählt, was die Musik längst und besser erzählt und fällt in die musikalische Erzählung ein.
Der schwarze Jäger Samiel, der nur Kaspar und keinem andern sichtbar ist und nur zu diesem spricht, darf bei Jacobs mit der Stimme des Schauspielers Max Urlacher altklug daher- und vorlaut in die Musik hineinquatschen, in einer Fermaten-Pause auch einmal den Nietzsche geben – „Gott ist tot!“ – oder einige Fetzen aus August Apels „Gespensterbuch“ einwerfen, einer der Quellen des Textbuchs der Oper.
Und die Sänger? Keiner von ihnen formt seine Partie hörbar musikalisch aus. Sie agieren hölzern im Originaltext, natürlicher im ergänzten Text, ungenau in den Melodramen. Sie bringen Verzierungen bei, die wohl Fach- und Sachkenntnis bezüglich der Aufführungspraxis belegen sollen, aber weder zu Rollen, noch zu Vorgängen Substantielles beitragen. Sie wirken aufgesetzt. Wie könnte sich einer anhören, der zweiter Jägerbursche ist, aber die Rolle des ersten Tenors zugeschrieben bekommt? Maximilian Schmitt tremoliert sich unsicher durch die Partie des Max. Und wie ein erster Jägerbursche, der den tiefen Fall des andern beschwört, um sich vor dem eigenen tiefen Fall zu retten? Dimitry Ivashchenko scheint Kaspars Schicksal kaum zu tangieren. Worin könnten sich späte Braut und junge städtische Verwandte, Schicksalsergebene und Schicksalsbewältigende unterscheiden und ergänzen? Mit schlanken Stimmen kommen Polina Pasztircsák allgemein lyrisch, Kateryna Kasper allgemein soubrettig daher. Nicht nur in der unendlich teigig ausgewalzten Exposition des Dramas, sondern auch zu seinem Ende verharmlost Christian Immler den Eremiten zu einem larmoyanten Pfaffen.
Eine Kriegserklärung der Geister- gegen die Menschenwelt
Jacobs’ Freude an barocker Theatermaschinerie mögen überflüssige Soundeffekte geschuldet sein, welche nicht verstärken, sondern schwächen, was Weber besser und eindrücklicher musikalisch ausformuliert hat. Windmaschine und Chorgeheul berauben den Chor der Geister in der Eingangsszene zur Wolfsschlucht, eine Kriegserklärung der Geister- gegen die Menschenwelt, der Hölle gegen den Himmel, jeglicher Gewalt. Ohnehin singen die Damen und Herren der Zürcher Sing-Akademie ohne Zug. Und warum überhaupt müssen die Brautjungfern chorisch besetzt sein?
Sorgen Dirigent und Spieler auf historischen Instrumenten immerhin für luziden Klang, so gehen ihnen die verstörenden und innovativen Momente der Partitur völlig ab. Historische Informiertheit, die sich allein auf erwiesene und vermutete musikalische Aufführungspraxis verengt, überführt sich historischer Uninformiertheit, wo sie Gehalt und Intention der Schwesterkünste ignoriert. Indem Jacobs die Orchestrierung auf Webersches Maß, ihre Wirkung aber aufs Biedermeierliche herunterbricht, setzt er unversehens all jene Dirigenten ins Recht, die meinten oder vermeinten, die von Weber beabsichtigte Wirkung ließe sich mit Webers Orchester nicht und nur mit vergrößertem, sprich: romantisiertem, Orchester herstellen.
Jacobs will Staub der Interpretationsgeschichte von der Partitur wischen. Zugleich verfällt er dem Mythos von einer genialen Musik zu einem dilettantischen Libretto, dem aufgeholfen werden müsse. Das Mißtrauen in das Libretto ist in Wahrheit ein Mißtrauen gegen den Komponisten, der das Libretto so und nicht anders vertont hat. Eine ambitionierte Einspielung ist zu kurzschlüssigem und schnellschüssigem Relaunch mißraten. Das von Jacobs und den Seinen offerierte herzige Singspiel irgendwo zwischen Kirchentag und Gruselkabinett verliert desto mehr, je öfter man es sich anhört.
In einem Aufsatz zu Schillers „Bürgschaft“, den Karl Mickel seinem 1966 erschienenen Gedichtband „Vita nova mea“ beigegeben hat, unterschied dieser Dichter der Sächsischen Dichterschule vier Stufen des Verstehens: das naive, das soziologische, das historische und, nicht zuletzt, das aktuelle Verstehen. Soll uns Weber als Zeitgenosse helfend beispringen, muß er historisch gelesen werden.
Carl Maria von Weber Der Freischütz Hamonia mundi 2022