© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/23 / 20. Januar 2023

Wenn der Schmerz Befreiung ist
Kino: Mit „The Son“ greift Regisseur Florian Zeller erneut ein Thema auf, das viele betrifft: jugendliche Depressionen
Dietmar Mehrens

Dies ist ein Film, der sehr viele Eltern betreffen dürfte und in Zukunft noch sehr viel mehr Eltern betreffen wird. Es geht um einen Feind, der wie die siebenköpfige Hydra schwer zu besiegen ist. Es geht um Depression, Selbstverletzung und Selbstmord unter Jugendlichen. Laut einer WHO-Studie ist Suizid die vierthäufigste Todesursache bei Jugendlichen zwischen 15 und 19 Jahren. Viele sehen auch einen Zusammenhang zwischen Depressionen und Selbstannahmestörungen, die – auch wenn regenbogenaffine Forscherkreise hier gern einen gedanklichen Sperrzaun errichten – ein Grund für die rapide Zunahme operativer Geschlechtsumwandlungen sind (vgl. Forum JF 47/21). 

Der französische Regisseur Florian Zeller hat sich bereits in seinem Theaterstück „Le fils“ des ebenso hochbrisanten wie hochaktuellen Themas angenommen und dieses auf ergreifende Weise verfilmt. Unter dem englischen Titel „The Son“ kommt Zellers Film nun in die Kinos, und man hat sogleich das Gefühl, daß er der Film der Stunde ist, daß er bei etlichen Menschen offene Türen einrennen wird, durch die bisher sehr viel Leid über die Betroffenen gekommen ist.

Der Junge fügt sich selbst Verletzungen und Schmerzen zu

„The Son“ handelt von einer Familie, die keine mehr ist. Peter (Hugh Jackman), der Vater des pubertierenden Nicholas (Zen McGrath), gehört zum Führungsstab eines erfolgreichen Unternehmens und steht kurz vor einem großartigen Karrieresprung: Er könnte in die Wahlkampf-Mannschaft des Senators von Delaware aufrücken. Er ist geschieden von Kate (Laura Dern), bei der Nicholas lebt, und ist mit Kates Nachfolgerin, der deutlich jüngeren Beth (Vanessa Kirby), gerade zum zweiten Mal Vater geworden. Das Drama beginnt, als herauskommt, daß Nicholas seit Wochen die Schule schwänzt und sich auch sonst sonderbar benimmt. Wo ist der fröhliche, unbeschwerte Junge geblieben, dem Peter einst beim Baden im Meer das Schwimmen beibrachte? „Es ist das Leben“, versucht der Sohn sich zu erklären. „Es zieht mich so runter.“ Er habe oft „dunkle Gedanken“. Die Eltern beschließen, Nicholas auf dessen eigenen Wunsch eine Zeitlang beim Vater wohnen und auf eine andere Schule gehen zu lassen.

Bald wird klar: Es war nur das Herumdoktern an Symptomen. Nicholas hat ganz andere, tiefer sitzende Probleme als sein schulisches Umfeld. Peter entdeckt, daß er sich mit einem Messer „ritzt“, also selbst Verletzungen zufügt, ein unter Jugendlichen mit psychischer Störung verbreitetes Phänomen. Peter stellt seinen Sohn zur Rede, will wissen, warum er sich denn auf diese Weise Schmerzen zufüge. Die verstörende Antwort: Das Gegenteil sei der Fall, das Ritzen verschaffe ihm Erleichterung vom Schmerz. Denn er habe Schmerzen, die ganze Zeit habe er Schmerzen. Und schließlich kommt auch die für jeden Laienpsychologen auf der Hand liegende Ursache dieses Schmerzes zur Sprache: In dem Moment, als der Vater seine Familie wegen einer Jüngeren verlassen habe, sei in seinem Inneren etwas zerbrochen.

Doch auch Peter – das wird in einer Nebenhandlung deutlich – trägt ein Trauma mit sich herum: Sein eigener Vater (Anthony Hopkins) hat seine Familie ebenfalls im Stich gelassen. Wiederholt Peter, ohne es zu wollen, die zerstörerischen Fehler seines eigenen Vaters und ist damit schuld am Leiden seines Sohnes?

Wie schon bei seinem oscargekrönten Kino-Debüt „The Father“ (2020), übrigens ebenfalls mit Anthony Hopkins, ist es auch diesmal keine leichte Kost, die der in Paris geborene Autor und Regisseur seinen Zuschauern serviert. Doch sein präzise beobachtendes und stets nah an den Figuren bleibendes Filmdrama berührt in nahezu jeder Szene, geht mit seiner Intensität unter die Haut. Ein in mehrfacher Hinsicht verstörendes Finale sorgt dafür, daß die Geschichte, die „The Son“ erzählt, lange im Gedächtnis bleibt. Auch bei denen, die von der Volkskrankheit Depression im eigenen familiären Umfeld bislang verschont geblieben sind.


Kinostart ist am 26. Januar 2023