© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/23 / 20. Januar 2023

Der verlorene Schatten
Falsche Glücksversprechen: Frank-Walter Steinmeier, Olaf Scholz und die Identitätslosigkeit der Bundesrepublik
Thorsten Hinz

Ein einziges Mal kam dem Bundespräsidenten in seiner Weihnachtsansprache „Deutschland“ über die Lippen – als Fluchtziel für Ukrainer. Zweimal gebrauchte er „Deutsch“, und zwar in der Substantiv-Form, welche die deutsche Sprache bezeichnet. Dabei ging es um Sprachkurse für Kriegsflüchtlinge. An „die Älteren“ im Land richtete sein höchster Sachwalter die Aufforderung, sich „spät im Leben noch einmal bereit (zu halten), sich zu verändern“.

Der Kanzler leitete seine Neujahrsansprache ebenfalls damit ein, Deutschland als eine Funktionsgröße im Krieg zu thematisieren, der ihre Bestimmung von außen zugewiesen wird, die keine überflüssigen Fragen stellt, sondern bei der Erfüllung der übertragenen Aufgaben sich „unterhakt“ und „niemanden zurückläßt“. Was in der Vorstellung des Kanzlers „ein starkes Land“ illustrieren sollte, „ein Land, das mit Tatkraft und Tempo an einer guten, sicheren Zukunft arbeitet“, ließ vielmehr an eine grenzdebile Schunkel-, Polonäse- und Karnevals-Gesellschaft denken. Hätte er noch „sozialistisch“ eingefügt, wäre das Erich-Honecker-Revival perfekt gewesen.

Es brauchte keine Silvester-Randale in Berlin-Neukölln, um die Einsicht zu vermitteln, daß eine Zukunft ganz anderer Art im Gange ist. Die Bereitschaft zur Veränderung, die der Bundespräsident den Älteren abfordert – die Bereitschaft der Jüngeren setzt er offenbar schon voraus – kann unter diesen Umständen nur heißen, sich dem Niedergang des Landes widerspruchslos zu fügen.

Gleichnis für die Flucht in die Hypermoral

„Deutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden. / Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf“, dichtete Friedrich Schiller um 1800. Heute steht es schlimmer. Das einstige Land der Dichter und Denker ist weder eine politische Größe noch eine Gelehrtenrepublik. Emblematisch war die Häslein-in-der Grube-Aufstellung, mit der die „Mannschaft“ bei der Fußball-WM den Erdkreis gedachte in Schwingungen zu versetzen. Es war eine Geste ohne Geist, Stolz und Stil, erfüllt von hypermoralisch drapierter Servilität. Die Welt lachte denn auch herzlich über elf armselige Verlierer, die einen Anblick boten, als würden sie gleichzeitig an Diarrhoe und Verstopfung leiden. 

Die Selbstannullierung, die sich darin bildhaft ausdrückte, ist weder faustisch noch tragisch im Sinne des scheiternden Kraftmenschen in Schillers „Wallenstein“-Dramen; es ist pathologisch. Die geeigneten Vergleiche finden sich eher in der romantisch-phantastischen als in der klassisch-realistischen Literatur.

Die Bundesrepublik ist ein „Peter Schlemihl“ unter den Staaten. Ihre Geschichte berührt sich mit der des Ich-Erzählers in der „wundersamen Geschichte“, die Adelbert von Chamisso 1814 veröffentlichte. Peter Schlemihl kommt abgerissen in einer unbekannten Stadt an, mit nichts ausgestattet als dem Empfehlungsschreiben für einen reichen Geschäftsmann, der ihn mit der Vorhaltung beschämt: „Wer nicht Herr ist mindestens einer Million, der ist, man verzeihe mir das, ein Schuft.“ Sogleich ist ein unheimlicher Alter zur Stelle, der ihm vorschlägt, seinen „edlen“, seinen „schönen, schönen Schatten“ einzutauschen gegen ein „Glückssäckel“, das einen niemals endenden Vorrat an Goldstücken enthält.

Unermeßlich reich, aber auch schattenlos geworden, flößt Schlemihl seiner Mitwelt fortan ein Grauen ein. Er wird beschimpft, ausgegrenzt, verjagt, ausgenutzt, erpreßt. Schließlich flieht er – „durch frühe Schuld von der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen“ – mit Siebenmeilenstiefeln in die ferne Natur.

E.T.A. Hoffmann war vom „Schlemihl“ so begeistert, daß er ein Jahr später eine Adaption verfaßte: „Die Geschichte vom verlornen Spiegelbilde“. Der 27jährige Erasmus Spikher verläßt Frau und Sohn in Richtung Italien, wo er einer verführerischen Frau, seiner „Donna“, seinem „Engelsbild“ verfällt: „Dich habe ich geschaut in meinen Träumen, meine Seligkeit, mein höheres Leben.“ Er ignoriert die Warnung, daß es sich in Wahrheit um eine „der schlauesten Kurtisanen“ handelt. Er glaubt sich geliebt, erhoben, doch in Wahrheit wird er manipuliert und zu einem Eifersuchtsmord veranlaßt, der ihn zur Flucht nach Deutschland zwingt. Dort widerfährt ihm das bittere Schlemihl-Schicksal, denn zuvor hatte er der Donna sein Spiegelbild als Liebespfand überlassen. 

Beide Male steckt hinter den falschen Glücksversprechen der Teufel. Im ersten Fall ist es materieller, im zweiten ideeller Natur. Die Schlemihl-Geschichte läßt sich als Allegorie auf eine Gesellschaft lesen, die sich nach 1945 über das Wirtschaftswunder und den Massenwohlstand definierte und ein identitäts- und formloses, plumpes Außenbild abgab. Die Hoffmannsche Variante eignet sich als Gleichnis für die Flucht der Bundesrepublik in die Hypermoral. Die höhere Existenz in den Sphären des Postnationalismus ist in Wahrheit ein Trugbild und ein vergiftetes Surrogat, das den Mangel an  Geist, Kultur und politischer Reife nur noch schärfer hervortreten läßt. Das eine hat der Bundesrepublik von außen Begehrlichkeiten, Neid und die Schmeicheleien eigennütziger Freunde eingetragen, das andere Verblüffung, eine enervierte Gereiztheit und schließlich Gelächter beschert. Beides ist ihr inzwischen zum Fluch geworden.

Der Schutzgeist ist Deutschland abhanden gekommen

Was aber bedeutet der Schatten? Er steht für öffentliches Ansehen, bürgerliche Solidität, für den guten Ruf, für eine geistige und menschliche Substanz. Aus all dem ergibt sich die Individualität und Identität. Sein Verschwinden ist auch eine Metapher für den Heimatverlust, denn ohne Grund und Boden hat man nichts, worauf man seinen Schatten werfen könnte. Chamisso war der Sohn französischer Adliger, die 1792 mit dem 11jährigen nach Deutschland emigrierten. Wie sehr ihn die soziale und nationale  Entwurzelung prägte, hat er prägnant in dem Satz zusammengefaßt: „Ich bin ein Franzose in Deutschland und Deutscher in Frankreich, Katholik bei den Protestanten, Protestant bei den Katholiken, Jakobiner bei den Aristokraten und bei den Demokraten ein Adliger, ich bin nirgends am Platze, ich bin überall fremd.“ Im allgemeinsten Sinne ist der Schatten auch ein Daimon, jener Schutzgeist, der  nach Platon dem Menschen „zum Beschützer seines Lebens und zum Vollstrecker seiner Wahl mitgeschickt“ wird.

Dieser Daimon ist Deutschland abhanden gekommen. Es hat seine Geschichte auf eine zwölfjährige „Vergangenheit“ verkürzt und als feindliches Objekt von sich abgetrennt, um sie in stupider Monotonie zu „bewältigen“. Es wirft keinen Schatten mehr, und wenn es vor den Spiegel tritt, bleibt dieser leer. Auf personale Ebene übertragen, entspricht es dem alten Mr. Redlaw, einem weiteren Schlemihl-Adepten aus Charles Dickens’ Erzählung „Der Verwünschte“ von 1848. Redlaw ist ein weltberühmter Wissenschaftler, der permanent von der „Erinnerung an Kummer, Kränkung und Sorge“ eingeholt wird. Ein Geist – ein abgespaltener Teil seines Ich – bietet ihm an, ihn davon zu befreien, doch dem Abstreifen der eigenen Lebensgeschichte folgt die Tragödie. Durch die Gehirnwäsche zum Zombie geworden, kann er weder am eigenen noch am Schicksal der anderen Anteil nehmen. Fortan geht eine negative Energie von ihm aus; seine Gabe überträgt sich auf seine Umgebung und zerstört jegliche zwischenmenschliche Solidarität, welche die Menschen in und durch Not und Leid zusammenschweißt.

Ein lieblos in der Gosse aufgewachsener Jungen, dessen Äußeres, dessen Wesen und Verhalten entmenschlicht wirken, ist jetzt sein Alter ego: „Dies (…) ist das letzte und vollständigste Gesicht eines menschlichen Wesens, ganz entblößt von solchen Erinnerungen, wie du sie aufgegeben hast. Keine besänftigenden Erinnerungen an Kummer, Kränkung oder Sorge wohnt hier, weil dieses unglückliche Menschenkind, von Anfang an verlassen, aufgewachsen ist wie ein Tier. In seinem Gemüt lebt nichts, was den Keim einer solchen Erinnerung zum Sprießen bringen könnte und wodurch der Mensch erst zum Menschen wird. In diesem verlassenen Geschöpf ist alles öde Wüste. In dem Menschen, dem alles geraubt ist, was du aufgegeben hast, ist dieselbe öde Wüste. Wehe solch einem Menschen! Wehe, zehnfach Wehe dem Volk, das Geschöpfe wie dieses Kind hier nach Hunderten und Tausenden zählt!“ 

Oder nach Hunderttausenden! Oder gar nach Millionen! Es reagiert pathologisch, und das Pathologische wird zur unbezwingbaren Kraft im Land, das seinem verlorenen Schatten nachfolgt und in den Ansprachen seiner führenden Repräsentanten nur noch als geographischer Begriff und fremdbestimmte Funktionsgröße existiert.