© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/23 / 20. Januar 2023

China schrumpft und Nigeria boomt
Bevölkerungsentwicklung: Während in Afrika die größten Familien auf dem Planeten leben, wächst in Indien die Sorge um die Senioren
Jörg Sobolewski

Es ist ein Wort aus dem Fundus der politischen Endzeitvisionen des zwanzigsten Jahrhunderts. Lange bevor Klimawandel und Treibhausgase den politischen Diskurs bestimmten, diskutierten Untergangspropheten über die „Bevölkerungsexplosion“, über Nahrungsmittelknappheit oder gar die Raumnot ganzer Völker. 96 Jahre nach der ersten Weltbevölkerungskonferenz 1927 in Genf wird zwar immer noch viel über Geburtenraten geredet, aber die Sorge vor einer Überbevölkerung hat deutlich nachgelassen. Besonders in den entwickelten Gegenden des Planeten herrscht mittlerweile eher die Furcht vor Vergreisung oder Überfremdung infolge einer niedrigen Geburtenrate vor.

Auch wahre Bevölkerungsgiganten sind davor nicht geschützt. In der Volksrepublik China sorgen sich etwa einige, man werde „alt“, bevor man die Chance habe, „reich“ zu werden, eine Folge der Ein-Kind-Politik, die aus der Milliardennation eine tickende demographische Bombe gemacht hat. Anfang dieser Woche schlug dann diese Bombe ein. Die chinesische Bevölkerung schrumpft erstmals seit sechs Jahrzehnten, vermeldete das Statistikamt in Peking. Ende Dezember habe das bevölkerungsreichste Land der Welt 1,411 Milliarden Einwohner gehabt und damit rund 850.000 weniger als ein Jahr zuvor. Die Geburtenrate liegt nur noch bei 6,77 Neugeborenen auf 1.000 Menschen.

Auch Elon Musk wird von der Angst vor Vergreisung angetrieben, ein Kollaps der menschlichen Zivilisation durch „niedrige Geburtenraten sei ein deutlich größeres Risiko für die Menschheit als die globale Erwärmung“. Eine Furcht, der zumindest bislang westliche Wissenschaftler nicht folgen möchten. Geburtenraten seien zwar in der entwickelten Welt im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts massiv eingebrochen, global sei man aber weiter auf Wachstumskurs, wie es Joseph Chamie, der ehemalige Direktor der Abteilung für Bevölkerungsentwicklung der Vereinten Nationen, ausdrückt.

Dennoch hat seine Behörde eine Prognose für das Jahr 2023 aufgestellt, die Aufsehen erregt. In diesem Jahr werde sich, so die Spezialisten der Uno, das Bevölkerungswachstum in Indien nicht wesentlich abschwächen und das Land im Populationsduell mit China die Führung übernehmen. Der bevölkerungsreichste Staat der Erde zum Jahreswechsel 2022/2023 heißt dann erstmals Indien. Momentan liegen beide Länder nahezu gleichauf mit geschätzten Werten von 1,414 (Indien) beziehungsweise 1,411 (China) Milliarden Menschen.

Ein Kopf-an-Kopf-Rennen, das aber tatsächlich den Blick auf die wahre Brisanz des UN-Reports verdeckt. Denn der Haupttreiber der Geburten weltweit befindet sich in Afrika. Während ein moderates Bevölkerungswachstum an vielen Orten vor allem auf einen Rückgang der Mortalität und eine steigende Lebenserwartung zurückzuführen ist – etwa in Lateinamerika, wo besonders der weibliche Teil der Bevölkerung deutlich länger leben wird als bisher und im Schnitt sieben Jahre älter wird als der männliche Teil –, finden sich in Afrika weiterhin die größten Familien auf dem Planeten.

Ein besonders krasser Fall dabei ist Niger. Ein Blick in die Statistik offenbart dabei ein Panoptikum der Vergangenheit. Das Binnenland in Westafrika hat die höchste Rate an sogenannten Kindbräuten und ist konsequenterweise auch eines der Länder mit dem niedrigsten Durchschnittsalter werdender Mütter. Knapp über 20 Jahre ist eine Mutter im Niger im Schnitt alt – etwa zehn Jahre jünger als in Deutschland. Mit 6,89 Lebendgeburten pro Frau liegt das Land deutlich über dem weltweiten Schnitt und stellt die Regierung in der Hauptstadt Niamey vor ein großes Problem: wie genügend Arbeitsplätze für die kommenden Generationen schaffen? Doch auch hier: Die Geburtenrate sinkt, nur eben langsamer als anderswo. Dennoch sollen nun weitreichende Kampagnen zur Empfängnisverhütung schneller Abhilfe schaffen, zu drängend ist der Geburtendruck.

Ein Thema, das auch die Verantwortlichen in anderen westafrikanischen Hauptstädten umtreiben dürfte, denn es fehlt an Aufstiegschancen für die unverändert schnell wachsende Bevölkerung. Über die Hälfte der Bevölkerungszunahme bis 2050 konzentriert sich dabei auf acht Staaten, fünf davon in Afrika. Spitzenreiter dabei: Nigeria. Zwischen 1990 und 2022 verdoppelte sich die Bevölkerung, bis 2050 wird das westafrikanische Land über 300 Millionen Menschen beherbergen und zum dritt- oder viertgrößten Staat der Welt werden.

Ein starkes Gefälle zwischen Stadt und Land bei den Geburten

Verantwortlich dafür seien „patriarchale Strukturen“, so der Report. Auch die WHO stößt in das Horn und preist als Lösung für die Bevölkerungszunahme eine weitere Verbreitung von Verhütungsmitteln für Frauen im Land an. Dies sei Teil des Menschenrechts auf Gesundheit und sexuelle Reproduktion.

Neben Nigeria wachsen auch Äthiopien und der Kongo in die Spitzengruppe der zehn bevölkerungsreichsten Staaten hinein, angetrieben von hohen Geburtenraten. Doch tatsächlich weisen Daten vor allem auf ein Gefälle zwischen Stadt und Land hin. Urbanisierung ist, so wie auch in Europa oder Nordamerika, der Hauptfaktor für weibliche Kinderlosigkeit. Die Megacities einiger Entwicklungsländer werden vor allem durch einen stetigen Zuzug vom Land in die Stadt angetrieben. Denn dort sind häufig Aufstiegschancen zu finden – das Hauptbedürfnis einer jungen Bevölkerung – und eine bessere Gesundheitsversorgung. Die ist mittverantwortlich für die weiterhin wachsende Weltbevölkerung, was sich vor allem beim Blick auf andere Kontinente zeigt.

Außerhalb Afrikas treiben etwa die Philippinen und Pakistan die Entwicklung an, doch besonders in Asien schlägt sich neben in einzelnen Ländern unverändert hohen Geburtenraten eine weitere Besonderheit des 21. Jahrhunderts nieder. Bevölkerungen wachsen hier, weil Menschen später sterben. Das gilt auch für den künftigen Rekordmeister Indien, mittlerweile leben hier 138 Millionen „senior citizens“, also Senioren im entsprechenden Alter. Ein nationaler Höchststand, der im Land Anlaß zu Diskussionen gibt.

Denn während die Zahl der Alten stetig zunimmt, sinkt die Geburtenrate ebenfalls – auf mittlerweile nur noch 2,05 Kinder pro Frau. Das Land bewege sich auf einen Tiefstand zu, der „unterhalb der Selbsterhaltung“ liege, so eine Veröffentlichung des Gesundheitsministeriums. Was von den einen mit Erleichterung begrüßt wird, sehen andere kritisch. Denn unverändert starken Nachwuchs verzeichnen die ökonomisch schwächeren unter den Indern. Der Armutsgürtel entlang des Nordufer des Ganges ist eine Geburtenhochburg mit über drei Kindern pro Frau, während die weiter entwickelten Staaten Tamil Nadu und Karnataka bereits im Schrumpfen begriffen sind. Immerhin, einstweilen kann das Land seine demographischen Unterschiede noch durch Binnenmigration ausgleichen, ein Luxus, den die entwickelten Staaten im Norden des Planeten nicht haben.

Seit 2018 gibt es auf der Erde mehr Menschen über 65 Jahre als unter fünf, bis 2030 könnte die Zahl der Senioren über 65 auf fast eine Milliarde Menschen ansteigen. Der blaue Planet wird grauer, damit einher geht auch ein steigender Migrationsdruck. Wo nicht, wie etwa in Japan, auf technischen Fortschritt gesetzt wird, fehlen Arbeitskräfte. Doch ob dieser Bedarf aus den weiterhin geburtenstarken Entwicklungsländern gedeckt werden kann ist fraglich.

Doch was tun? Das World Economic Forum (WEF) schreibt politischen Entscheidungsträgern und Führungskräften fünf Maßnahmen, die zur Erhaltung „unserer demographisch vielfältigen Welt“ nötig sind, ins Stammbuch: Analysieren Sie Bevölkerungsdaten, investieren Sie in Familienplanung und reproduktive Entscheidungen, planen Sie für den künftigen Bedarf an Gesundheitsinfrastruktur, sorgen Sie für Bildung für alle in allen Altersgruppen und sehen „Inklusivität als Priorität“. Dazu, so das WEF, gehörten die „Änderung von Geschlechternormen, um Frauen den Verbleib im Erwerbsleben zu erleichtern, älteren Menschen den Verbleib im Erwerbsleben zu ermöglichen“. Zudem soll eine Änderung der Migrationspolitik Migranten einen Weg zur Verbesserung ihres wirtschaftlichen und sozialen Status eröffnen. „Politische Maßnahmen, die der Inklusion Vorrang einräumen, haben langfristige Auswirkungen und verbessern nicht nur kurzfristig die Ergebnisse, sondern bringen die Länder auch auf den Weg zu langfristigem Wohlstand“, betont das WEF.