© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/23 / 20. Januar 2023

Ratlos und verzagt
Weltwirtschaftsforum: Der „Global Risks Report 2023“ ist auf Krise gebürstet / Die Politgiganten sind in Davos nicht vertreten
Albrecht Rothacher

Nach zwei Jahren Corona-Zwangspause trifft sich seit Montag wieder die 2.500köpfige Wirtschafts- und Polit­elite im Graubündner Bergstädtchen Davos. In 1.560 Meter Höhe sind 52 Regierungs­chefs angesagt, dazu die Spitzen von Amazon, BlackRock, Pfizer, der New York Times, von NBC und CNN sowie der Gates- und Soros-Stiftungen. Das Weltwirtschaftsforum (WEF) des deutsch-schweizerischen Unternehmersohns Klaus Schwab (84) und seines 2017 engagierten WEF-Präsidenten Børge Brende (57) – einem EU-begeisterten Ex-Außenminister Norwegens – bietet damit Stoff für die Phantasie der Verschwörungstheoretiker.

Tatsächlich fehlen aber die Staats- und Regierungschefs der USA, Chinas, Indiens, Rußlands, Brasiliens, Japans und Frankreichs, auch die Türken, Briten, Kanadier und Italiener schwänzen die Verabredung zur Neuen Weltordung. Also nur zweite Liga: Die Berliner Ampel ist mit Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner vollzählig vertreten, dazu EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und diverse Kommissare sowie die Inflationsspezialistin Christine Lagarde von der EZB. Auch die Regierungschefs von Südafrika, Südkorea, Spanien, Serbien und Finnland gönnen sich einen Alpen-Trip. Der Rest rangiert unter ferner liefen.

Standardprogramm ist seit 30 Jahren: auf Panels rumsitzen, Kurz-Statements ablesen, danach zu netzwerken, zu schlemmen und sich auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten gegenseitig zu bestätigen, wie wichtig man ist. Das Motto des 53. Forums lautet diesmal „Zusammenarbeit in einer fragmentierten Welt“. Der vorige Woche veröffentlichte „Global Risks Report 2023“ des WEF ist erstmals auf Krise gebürstet. Nach einer Umfrage unter 12.000 weltweiten Führungskräften und „Experten“ aus dem Dunstkreis des WEF sieht die Mehrheit das bisherige Globalisierungsmodell als gescheitert an. Es drohten das Kippen des Ökosystems, Naturkatastrophen, die Verarmung der Mittelschichten durch steigende Lebenshaltungskosten in den Schwellenländern und der Zusammenbruch staatlicher Strukturen wie im Libanon, Sri Lanka und Venezuela.

Die Konfrontation zwischen demokratischer Welt und Autokratien sowie das wachsende Risiko eines Krieges zwischen den USA und China wegen Taiwan seien reale Gefahren. Die ökonomische Kriegsführung würde zur Norm, bei der aber letztlich alle verlieren. Auch schwindet der Kinderglauben an die Steuerung des globalen Klimawandels und der Machbarkeit einer „1,5-Grad-Welt“ à la Pariser Abkommen von 2015 (COP 21).

Klumpenrisiken, Boykotte, Sanktionen und Embargos

Weitere Gefahren drohen durch die weltweite Inflation und damit verschärfte soziale Gegensätze, durch Epidemien, Cyberkriminalität, Massenmigrationen und den Verlust von Artenvielfalt – kein Wunder beim massenhaften Bau von bodenvernichtenden Logistikzentren, Solarpanelfeldern und Windparks. Neue Technologien vernichten die Jobs für Ungelernte – und damit auch die einströmenden Asyleinwanderer. Ein tiefer Pessimismus hat die Globalisierungsprofiteure von Davos ergriffen, sie begreifen, daß sie ihr eigenes Geschäftsmodell der Hyperglobalisierung an die Wand gefahren haben. Der 92jährige George Soros sieht sogar das Überleben der globalisierten Zivilisation in Gefahr.

Tatsächlich sieht auch die Weltbank in ihrem Wachstumsausblick („Global Economic Prospects 2023“) die weltweite Stagflation, das schlechteste Wachstum seit 1970 und das Ausbleiben der erwarteten Corona-Erholung als Vorboten einer globalen Rezession, die vor allem die Schwellen- und Entwicklungsländer – einschließlich Chinas unter dem unberechenbaren Diktator Xi Jinping – treffen wird. Das Tabu-Thema der Bevölkerungsexplosion in Afrika, die jeden Wohlstandsgewinn sofort wieder auffrißt, wird freilich weder von der Weltbank noch vom WEF ehrlich angesprochen. Nach Ideen und Konzepten für rückentwickelte regionale, nationale oder EU-weite autarkere Wirtschafts- und Energiestrukturen sucht man auch vergeblich.

Wer seine Chip-Produktion nach Ostasien, Arzneimittelgrundstoffe für Just-in-time-Lieferungen nach China und Indien und seine Buchhaltung und IT nach Bombay und Bangalore ausgelagert hat, sollte sich über politische Klumpenrisiken mit politischen Boykotts, Sanktionen, Gegensanktionen und Exportembargos nicht mehr wundern. Ebensowenig wie die politische Klasse, die Europa nach dem deutschen Atom- und Kohleausstieg ab 2011 zuerst vom billigen russischen Pipelinegas und -öl abhängig machte. Dies soll nunmehr mit teurem Flüssigerdgas (LNG) aus den USA („Fracking“), Katar, Nigeria und Algerien ersetzt werden – 50 Jahre nach der Ölkrise von 1973/74.

Damit nicht genug: Für die E-Mobilität und „nachhaltige“ Energien sind Unmengen an Batterien, Solarzellen und Windrädern sowie diverse Rohstoffe von Lithium bis hin zu den Seltenen Erden nötig – was zusätzliche strategische Abhängigkeiten von China bedingt. Billige Asienimporte – von der Gartenbank über das Baumwollhemd und den Premium-Sportschuh bis zur Plastikspielekonsole, den Fernseher und das teure Smartphone – hatten für Preiswettbewerb im Groß- und Einzelhandel gesorgt und so den Inflationsdruck auf zwei Prozent jährlich eingedämmt.

So spürten die Konsumenten die hemmungslose Gelddruck- und Schuldenfinanzierungpolitik der EZB unter Mario Draghi und Christine Lagarde nicht. Mit dem Einbruch der Lieferketten und dem Ukrainekrieg wurden zweistellige Inflationsraten in der Eurozone zur bitteren Realität. Das bedrückt die Davos-Elite nicht allzu sehr. Ist doch die durchschnittliche Verweildauer auf Vorstands- und Ministerposten mittlerweile auf zwei bis drei Jahre gesunken. Deshalb zählen nur der nächste Bonustermin und die nächste Wahl, und das sichere Wissen spätestens binnen eines Jahrzehnts auf dem Altenteil alle Probleme den Nachfolgern und der nächsten Generation überlassen zu haben.

„Global Risks Report 2023“ des WEF: weforum.org