© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/23 / 20. Januar 2023

„In sämtliche Proteste einreihen“
Frankreich: Sehen wir bald wieder brennende Barrikaden in Paris? Präsident Macron packt die unbeliebte aber nötige Rentenreform an
Friedrich-Thorsten Müller

Aus gutem Grund hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die Rentenreform, sein mit Abstand schwierigstes Projekt, in das erste Jahr seiner zweiten Amtszeit gelegt. Denn kaum ein sozialer Besitzstand ist den Franzosen so heilig wie ihr Renteneintritt mit 62 Jahren. Soll – da Macron 2027 nicht wiedergewählt werden kann – die Stabübergabe an einen anderen Präsidentschaftskandidaten aus der Renaissance-Partei gelingen, muß das Thema bis dahin vergessen sein. Der ursprüngliche Plan Macrons, die Reform schon in seiner ersten Legislaturperiode durchzuführen, wurde 2019 von der Corona-Pandemie ausgebremst, obwohl sie eigentlich auch damals schon von der damals satten Mehrheit der Präsidentenpartei im Parlament verabschiedet – aber nicht umgesetzt – wurde.

Le Pen versucht mit einer Gratwanderung zu punkten

Die Reform, die Premierministerin Élisabeth Borne vergangene Woche vorgestellt hat, sieht im einzelnen vor, das Renteneintrittsalter bis 2031 schrittweise auf 64 Jahre anzuheben. Um ohne Abschläge in Rente gehen zu können, müssen darüber hinaus 43 Jahre lang Beiträge bezahlt worden sein. Wer das mit 64 noch nicht erreicht hat, soll sogar bis 67 weiterarbeiten müssen, erhält dann aber – wie alle anderen – mindestens 1.200 Euro Rente monatlich. Auch weiterhin soll es darüber hinaus für bestimmte Berufsgruppen, wie Polizisten, Lokomotivführer, Bauarbeiter oder auch Tänzer der Pariser Oper, Ausnahmen geben. Die Fahrer der RATP (öffentlicher Nahverkehr Paris) könnten dann mit 54 statt bisher 52 in Rente gehen. 

Für das Projekt zur Stärkung des Wirtschaftsstandorts Frankreich und zur Entlastung der Rentenkassen weiß Macron nahezu sämtliche seriösen Wirtschafsexperten, wie zum Beispiel den unabhängigen Sachverständigenrat „Conseil d’orientation des retraites“ (Orientierungsrat Renten) auf seiner Seite. Selbst wenn die Rentenkassen in den vergangenen zwei Jahren noch Überschüsse erzielen konnten, ist doch spätestens in den 30er Jahren mit einem deutlichen Minus zu rechnen.

Auch in der französischen Nationalversammlung hat Macrons Premierministerin Borne grundsätzlich die Mehrheit hinter sich. Denn selbst wenn die Regierungspartei Renaissance über keine eigene Mehrheit verfügt, haben die konservativen Republikaner nach einigem Zögern doch Unterstützung zugesagt. Zusammen verfügen die beiden Fraktionen über 312 der 577 Mandate. 

An einer Gratwanderung versucht sich dagegen Marine Le Pens Rassemblement National. Sie verzichtet einerseits darauf, die Verabschiedung des Gesetzes im Parlament zu behindern, äußert aber gleichzeitig gegenüber dem Sender BFMTV Verständnis für dessen Gegner. Zwar werden die Franzosen mit dieser Reform ihrer Meinung nach „betrogen“, trotzdem ruft sie nicht zur Unterstützung der geplanten Proteste und Streiks auf. Dies tut dafür um so mehr der Vorsitzende von Frankreichs Linkspartei und Chef des Linksbündnisses NUPES,Jean-Luc Mélenchon. Er will sich „in sämtliche geplante Proteste einreihen“. 

Tatsächlich haben sich am Montag die Vorsitzenden aller maßgeblichen Gewerkschaften, von der CFDT über Force ouvrière bis CGT versammelt und ein umfassendes Streik- und Protestprogramm ausgerufen. Dazu äußerte Cyril Chabanier, daß man sich vor allem auf die zentrale Demonstration in Paris konzentrieren werde: „Wenn es nicht gelingt, [dort] eine Million Demonstranten auf die Straße zu bringen, dürfte es schwierig werden [das Projekt zu stoppen]“, so der Vorsitzende der Gewerkschaft CFDC. „Es wird vor allem davon abhängen, wie gut es gelingt, den Privatsektor zu mobilisieren.“

Nach Berichten der Wochenzeitung Le Point dürfte Frankreichs Politikern ein heißer – oder vielmehr kalter – Januar ins Haus stehen. Wie der Generalsekretär der Energiegewerkschaft (FNME-CGT), Sébastien Menesplier am Montag gegenüber der Presse äußerte, werde man auch den in der Gaskriese sehnsüchtig erwarteten Wiederanlauf von gewarteten Kernkraftwerken blockieren. Dies könne auch zu einer allgemeinen Strommangellage führen – die auch von Deutschland mit aufgefangen werden müßte – und Frankreichs Wirtschaft sabotieren, so der Gewerkschafter. Darüber hinaus soll Politikern, die die Reform befürworten, von gewerkschaftlich organisierten Energieversorgungsmitarbeitern gezielt der Strom abgestellt werden, was in Deutschland bisher kaum vorstellbar wäre.

Die spannende Frage der nächsten Tage und Wochen wird sein, ob es Macron gelingt, die Rentenreform im Eiltempo durch die Institutionen zu peitschen – und vor allem ob danach Ruhe einkehrt. Bereits am 23. Januar soll der französische Ministerrat die Reformpläne beschließen, Ende des Monats soll dann die Nationalversammlung zustimmen.