Um die Brexit-Partei war es ruhig geworden, seit ihr Hauptziel erreicht war. Vor drei Jahren trat Großbritannien aus der Europäischen Union aus. Nigel Farage zog sich aus der aktiven Politik zurück und wurde Kommentator, jetzt beim Sender GB News. Seine ehemalige Partei, umbenannt in Reform UK, machte weiter, sie blieb aber unterhalb der Schwelle der politischen Wahrnehmbarkeit. Seit kurzem ist jedoch ein Anstieg in den Umfragewerten festzustellen. In neueren Meinungsumfragen ist sie von drei Prozent bis auf sieben Prozent geklettert. „Wie groß ist die Bedrohung durch Reform UK für die Tories?“, fragte jüngst das Londoner Wirtschaftsblatt Financial Times in einem prominent plazierten Artikel auf der zweiten Seite.
Die Konservativen haben ein Horrorjahr hinter sich und liegen in Umfragen weit abgeschlagen hinter der linken Labour-Opposition. Zwei Premierminister sind kurz nacheinander gestürzt, erst Boris Johnson, dann Liz Truss. Die Tories wirkten wie ein demoralisierter Hühnerhaufen. Von der Unzufriedenheit profitiert Reform UK. „An dem Tag, als Liz Truss rausgeworfen wurde, ist unsere Parteimitgliedschaft explodiert“, sagt Richard Tice, der Parteivorsitzende. Noch nie seien so viele neue Anfragen gekommen.
Premier Rishi Sunak scheitert daran, eine Wende einzuleiten
Der 58jährige, der es als Immobilienunternehmer zum Multimillionär gebracht hat, führt die Partei seit 2021, Nigel Farage fungiert nur noch als Ehrenpräsident. Reform UK wird als rechtspopulistisch bezeichnet, gibt sich aber alle Mühe um einen moderaten Auftritt. Als Prioritäten nennt Tice: Steuern senken, die Immigration kontrollieren und die langen Wartelisten beim Gesundheitsdienst NHS abbauen. Bei den nächsten Wahlen, die Ende 2024 oder spätestens Anfang 2025 anstehen, werde Reform UK in 630 Wahlkreisen Kandidaten aufstellen, droht Tice. „Die Tories hatten ihre Chance, aber sie haben alles vermasselt“, sagt er.
Hochrangige Tories blicken mit Sorge auf die Konkurrenz von rechts. Ein früherer Minister läßt sich in der FT zitieren mit den Worten: „Beim Brexit-Votum ging es vor allem um die Kontrolle der Immigration, aber da haben wir versagt.“ Als vor ein paar Wochen neue Zahlen herauskamen, wonach die Einwanderung nach Großbritannien 2022 mit über einer Million so hoch wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg lag, donnerte Farage, die Konservativen hätten es verdient, „komplett ausradiert zu werden“. Schon ein paar hundert oder tausend Stimmen je Wahlkreis, die Tices Partei den Tories abnimmt, könnte für die Konservativen das Ergebnis noch verheerender machen als ohnehin befürchtet. Den Konservativen droht eine Erdrutschniederlage gegen Labour.
Bislang hat Premier Rishi Sunak in den ersten hundert Tagen in der Downing Street es nicht vermocht, eine Wende einzuleiten. Er kämpft mit Massenstreiks von Krankenhauspersonal, der lahmenden Wirtschaft und den hohen Lebenshaltungskosten. Sein Versprechen lautet, die Inflation zu besiegen und den Wirtschaftsmotor wieder zu starten. Außerdem will er die illegale Migration über den Ärmelkanal stoppen. Der Ruanda-Plan – Asylbewerber sollen in das afrikanische Land transportiert werden – zur Abschreckung von Bootsmigranten funktioniert aber immer noch nicht. Die Nervosität in der Tory-Partei ist groß. Der Flügel der Brexit-Hardliner fremdelt mit Sunak, einige hoffen auf eine Rückkehr von Johnson, die aber unwahrscheinlich ist. Die Bevölkerungsmehrheit hat sich von den seit fast dreizehn Jahren regierenden Konservativen abgewandt. Die rechte Konkurrenz von Reform UK macht die Lage für sie nun noch komplizierter.