© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/23 / 20. Januar 2023

Die Zukunft lacht
Eine demographische Krise überwinden: Wie Skandinavien, Ungarn und Italien mit nationaler Familienpolitik erste Achtungserfolge erzielen
Josef Hämmerling

Deutschland setzt um der absehbaren demographischen Krise entgegenzutreten massiv auf Einwanderung. Doch es gibt eine bessere Alternative. Während die Weltbevölkerung rapide ansteigt, vor allem aufgrund der hohen Geburtenraten in Afrika und Asien, bereitet die Entwicklung der Bevölkerungszahlen überall in Europa Sorgen. Schon 2019 hieß es in einer Analyse des Wissenschaftlichen Dienstes des EU-Parlaments („Demografischer Ausblick für die EU 2019“): In der EU sei die durchschnittliche Lebenserwartung auf ihrem historisch höchsten Stand, unterdessen ist die Anzahl der hinzukommenden Kinder von einem Durchschnitt von ungefähr 2,5 Kindern je Frau im Jahr 1960 auf heute etwas unter 1,6 gefallen. Das liegt weit unter der Fertilitätsrate von 2,1 Geburten je Frau, die in den entwickelten Ländern als erforderlich gilt, um die Bevölkerungszahl ohne Einwanderung stabil zu halten.

Gemeinsam führen diese Trends zu einer dramatischen Alterung der Nationen, deren Erwerbsbevölkerung (Personen im Alter von 15 bis 64) im Jahr 2010 zum ersten Mal abnahm und laut Berechnungen bis 2060 jedes Jahr weiter schrumpft. Der Anteil der 80jährigen und Älterer wird sich bis 2050 mehr als verdoppeln und mehr als elf Prozent erreichen. Die Gefahren daraus sind mannigfaltig. Im Jahr 2006 gab es vier Erwerbsfähige für einen Rentner (über 65 Jahren). Dieses Verhältnis wird sich bis 2050 auf zwei zu eins verringern.

„Die Mutter ist eine Frau, der Vater ist ein Mann“ 

Der lang verachtete Schlüssel einer gesunden Bevölkerungspolitik liegt dabei in den Geburtenraten. Keine der Nationen Europas erreicht das Bestandserhaltungsniveau, doch alle Staaten bemühen sich den Trend umzukehren. Beim ersten Blick auf den Kontinent fällt ein starkes Nord-Süd-Gefälle auf, das lediglich von der Türkei mit einer Rate von 12,8 Lebendgeburten je 1.000 Einwohner im Jahr 2021 und Frankreich mit 10,9 durchbrochen wird. An der Spitze steht Island mit 13,1, was sich etwa zu einer Fertilitätsrate von 1,82 Kindern pro Frau umrechnen läßt. Danach folgen Schweden (11), Finnland (10,9), Dänemark (10,8) und Norwegen (10,4). Deutlich darunter liegen Ungarn mit 9,7 sowie Deutschland und Österreich mit je 9,6 Lebendgeburten je 1.000 Einwohner. Allerdings finden sich letztere drei Länder noch immer über dem EU-Durchschnitt von 9,1. Weit abgeschlagen folgen Spanien mit 7,1 und Italien mit nur 6,8 am Ende der Tabelle.

Was also macht die kleine nordische Republik richtig? Der aktuelle Geburtenhöchststand in Island hat viel mit dem Corona-Lockdown zu tun – aber nicht nur, erklärt Kristín Símonardóttir, Professorin für Soziologie an der Universität von Island. „Ein weiterer Grund ist ein neues Gesetz, das Elternurlaub von neun auf zwölf Monate erhöht.“ Das Gesetz zwinge den Staat, im ersten Schritt die Zahl der Hebammen, Ärzte und vor allem der Infrastruktur für Kinder auszubauen. Im folgenden Schritt werden dann Kindergärten und Schulen für die erhofften Jung-Isländer gerüstet.

Dieser Rekordanstieg der Geburten auf der abgeschiedenen Insel bedeute gleichzeitig ein Konjunkturprogramm. Ähnlich sieht es in den Ländern Skandinaviens aus. Es spreche alles für Corona. „Das Timing ist einwandfrei. Der Anstieg begann im Dezember 2020.“ Also exakt neun Monate nach dem ersten Lockdown in Norwegen, erklärt die Demografin Ane Margrete Tømmerås. 

Während große Krisen normalerweise Geburtenzahlen sinken lassen, haben die in den nördlichen Staaten Europas besonders stark ausgebauten Wohlstandssysteme eine gegenteilige Entwicklung gefördert. Anders als im Rest Europas habe der nordische Wohlfahrtsstaat mit seinen starken Sozialsystemen den Bürgern Halt gegeben. Eine mögliche Erkrankung oder ein Jobverlust habe die Menschen so nicht vor existentielle Sorgen gestellt, erklärt Camilla Stoltenberg, Direktorin des norwegischen Volksgesundheitsinstituts das Glück.

Eine positive Wende ohne Menschenimport hat auch das ehemals sozialistische Ungarn unter Ministerpräsident Viktor Orbán geschafft. Nachdem es 2011 einen Tiefstand von 8,8 Geburten je 1.000 Einwohner erreicht hatte, bessert sich die Lage zusehends. 2013 hatte die rechtskonservative Regierung unter der Führung der Fidesz-Partei den Schutz der Familie sogar ins Grundgesetz aufgenommen. Seit 2020 heißt es in dem Artikel: „Das Fundament der Familie ist die Ehe und die Eltern-Kind-Beziehung. Die Mutter ist eine Frau, der Vater ist ein Mann.“

Ungarn hatte bereits 2010 umfangreiche Maßnahmen ergriffen, um die Geburtenrate hochzutreiben. Fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden heute auf dem einen oder anderen Wege für Familien und die Hoffnung auf Kinder ausgegeben, brüstet sich Orbán. Dazu zählen direkte Finanzierungen für die Kinder, sowie für die nicht arbeitenden Elternteile oder auch als Beihilfen zum Kauf einer Wohnung oder eines Autos und auch kostengünstige Darlehen bis 33.000 Euro, deren Schuld mit dem dritten Kind ganz erlischt oder Steuervergünstigungen. Seit 2023 müssen unter 30jährige keine Steuern mehr zahlen, wenn sie ein Kind haben. Aber ebenso versuchte die Politik ein „unterstützendes und akzeptierendes Umfeld für Familien im öffentlichen Diskurs zu etablieren“. Das Land nutzt eine breite Palette an Werkzeugen, da Untersuchungen zeigen, daß die Maßnahmen vor allem dann erfolgreich sind, wenn sie Hand in Hand gehen. Kurzgesagt: niemand entscheidet sich für Kinder, weil die Kitas im Land so gut und schön sind, wenn gleichzeitig die Schulen völlig überlastet sind.

Vollkommen gegensätzlich entwickeln sich West- und Südeuropa. In den dortigen Ländern steigt die Armut, was sich auch bei der Geburtenzahl niederschlägt. Während die Reallöhne in Deutschland zwischen 1991 und 2020 um durchschnittlich 12,3 Prozent stiegen, fielen sie in Italien in der gleichen Zeit. Die jüngst gewählte Regierung unter Giorgia Meloni will das Problem der wenigen italienischen Kinder nun aber verstärkt angehen. Die als Post-Faschistin geschmähte Frontfrau der Fratelli d‘Italia (Brüder Italiens) hat deshalb ein „Ministerium für Familie, Geburtenrate und Gleichberechtigung“ eingerichtet und dies mit ihrer Parteigenossin Eugenia Roccella besetzt. Mehr Kindergeld und Steuer­erleichterungen soll die katholische Feministin durchbringen. Beobachter erwarten von ihr eine Wende zum Theokonservatismus – traditionelle religiöse Werte sollen im Alltag wieder gestärkt werden, heißt auch: für gleichgeschlechtliche Paare kein Adoptionsrecht. Die althergebrachte Mutterschaft will sie wieder aufwerten. Roccella soll helfen, die von Meloni in ihrer Regierungserklärung angekündigte Überwindung der „demographischen Eiszeit“ zu vollbringen. Die Einwohnerzahl im Stiefel fällt seit 2014. Zusätzlich ist die dortige Bevölkerung mit 47,3 Jahren durchschnittlich die zweitälteste der Welt – nach der Japans mit 48,7. Die Einwohner Deutschlands waren 2022 im Schnitt 44,8 Jahre alt.

Konservative Familienpolitik kann Kinderreichtum fördern

Untersuchungen haben gezeigt, daß in Ländern mit vorherschenden traditionellen Werten die Geburtenraten höher liegen als in Staaten mit eher säkularen und modernen Einstellungen. Zwitterzustände können allerding genau zum Gegenteil führen. In Südeuropa träfen moderne Gesellschaftsstrukturen mit den daran geknüpften Erwartungen auf Frauen mit traditionellen Familienbildern. Kind und Karriere so unter einen Hut zu bringen, erweist sich als schwierig. Die Entwicklung in der Türkei bestätigt das. Vor allem auf dem Land sind die Erwartungen an die Familie und Rolle in der Gesellschaft eher im Einklang. Nicht nur, daß Präsident Recep Tayyip Erdoğan das Land immer näher an den konservativen Islam führt, auch betont er, daß Kinder die Zukunft der Türkei sichern. Zudem gelten in den ländlichen Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit Nachkommen als Altersabsicherung.

In Deutschland war die Geburtenrate nach Feststellung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BIB) zu Beginn der Corona-Pandemie 2020 noch gestiegen, als sie in anderen europäischen Ländern schon sank. Als Gründe für die Stagnation auf niedrigem Niveau stellte das BIB neben der Unsicherheit über die wirtschaftliche Entwicklung fest, daß Frauen beim Start der Impfkampagne im Frühjahr 2021 ihren Kinderwunsch zurückstellten. „Es ist plausibel, daß sich manche Frauen erst impfen lassen wollten, bevor sie schwanger werden“, erklärte BIB-Forschungsdirektor Martin Bujard. Die Impfung war für Schwangere zunächst nicht empfohlen. Seit Mai 2022 geht es mit den Geburten leicht aufwärts, was sowohl auf das Konto der Zuwanderinnen als auch der deutschen Frauen geht. Die in Deutschland geborenen Frauen hatten mit 1,5 Kindern je Frau eine geringere durchschnittliche Kinderzahl als die gleichaltrigen Zuwanderinnen mit 2,0 Kindern je Frau. Bei beiden Gruppen stieg die Zahl im Vergleich zum Vorjahr aber. 

Wie der Wunsch nach einem Kind zunehmen kann, hat eine vom Bundesfamilienministerium beauftragte Umfrage des Allensbacher Instituts 2017 ergeben: Ergebnis war, daß der Staat nicht die Geburt von Kindern belohnen oder besondere Anreize für Geburten schaffen müsse. Den meisten Eltern gehe es demnach darum, durch Unterstützung der Familien im Alltag Hindernisse für Familiengründung und Geburt auszuräumen und es den Familien zu ermöglichen, zu funktionieren. Es zeigt sich: Höher entwickelte Länder, die Familien mehr unterstützen, haben höhere Geburtenraten.