© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/23 / 20. Januar 2023

„Die Leute verbieten sich die eigene Meinung“
Einwanderung: Warum haben wir nicht die Politik, die sich die Mehrheit des Volkes laut Umfragen wünscht? Das fragte sich auch die Medizinerin Luise Sommer. In ihrem Buch „Intuition sticht Vernunft“ präsentiert sie ihre zum Teil erstaunlichen Ergebnisse
Moritz Schwarz

Frau Dr. Sommer, eine klare Mehrheit der Deutschen lehnt unkontrollierte Masseneinwanderung ab, dennoch ist sie politische Realität. Warum?

Luise Sommer: Genau diese Frage habe ich mir auch gestellt. Um das herauszubekommen, habe ich beschlossen, die Menschen diesbezüglich zu fragen. Das Resultat meiner Erhebung bestätigt, der überwiegende Teil der Bürger wählt eben nicht unbedingt die, die ihre Meinung vertreten, sondern die, mit denen sie sich identifizieren. 

Bedingt nicht das eine das andere?  

Sommer: Nein. Und ein gutes Beispiel dafür ist der erschreckte Ruf eines meiner Interviewpartner: „O Gott, jetzt rede ich wie ein AfDler!“ Diese Diskrepanz zeigt sich auch, wenn nicht wenige Leute unangenehm überrascht sind, wenn ihnen der Wahlomat sagt, die Partei ihrer Wahl sei die AfD. Fast alle von mir Befragten ließen die politische Meinung, die sie eigentlich haben, vor sich selbst einfach nicht zu.

Warum sollte man das tun?

Sommer: Zum einen möchte der Mensch vor der Gesellschaft als „gut“ dastehen – zum anderen auch vor sich selbst. Der Ausdruck „Gutmensch“ kommt nicht von ungefähr. Der US-Sozialpsychologe Mark Leary spricht von unserem „Sociometer“, das quasi beständig unser soziales Umfeld abtastet und uns vor Verhalten warnt, das uns außerhalb stellen könnten. Deshalb unterlassen wir es etwa, unsere wahre Meinung zu sagen, Kritik zu äußern oder uns so zu verhalten, daß wir Anstoß erregen könnten. Das führt so weit, daß Menschen von vornherein alles meiden, was auch nur potentiell zu Disharmonien führen könnte, etwa Gespräche über Politik. 

Aber das ist keine Erklärung für das Abweichen der durchschnittlichen Wahlergebnisse von der durchschnittlichen Volksmeinung, denn in der Wahlkabine ist man allein, kann also völlig folgenlos sein Kreuzchen setzen.

Sommer: So funktioniert das ja auch bis zu einem gewissen Grad. So war etwa unser Bürgermeister sehr bestürzt, als die AfD 25 Prozent bekam. Diese „Nazis“, wie er sagt, waren ihm vorher nicht aufgefallen. Wenn aber andererseits beim gemeinsamen Ausfüllen der Briefwahlzettel zu Hause die Stimme für die AfD doch zu einer für die Grünen wird, hat das „Sociometer“ ganze Arbeit geleistet. Dazu kommt das genannte zweite Moment, die gewünschte Meinung des Menschen von sich selbst: Wenn wir uns gewisse Ansichten strikt selbst verbieten, führt das zu Stillstand im Denken und wir beginnen, unsere eigene Meinung abzulegen und die der Gruppe zu übernehmen – und schließlich erscheint uns unsere ursprüngliche Ansicht als moralisch verwerflich. Der amerikanische Moralpsychologe Jonathan Haidt spricht deshalb davon, daß „Moral binds and blinds“, „(uns) bindet und blind macht“.  

Und diese Mechanismen haben Sie auch beobachtet?

Sommer: Er wurde mir von meinen Gesprächspartnern immer wieder demonstriert, in Form sich widersprechender Aussagen. Sie haben sich also, oft unverzüglich, selbst korrigiert, in Richtung „guter Mensch“, der sie sein wollten. 

Läßt sich dieser Mechanismus durchbrechen? 

Sommer: Selten, weil unser „Sociometer“ uns weit stärker kontrolliert als unser Verstand. Dazu kommt, daß unsere Intuition diesen sogar für ihre Zwecke instrumentalisiert. Joshua Greene, ein weiterer US-Psychologe, beschreibt diesen Prozeß so: „Wir alle haben starke Gefühle, die uns sagen, was getan und was nicht getan werden darf. Doch der Sinn dieser Gefühle ist (uns) nicht offensichtlich. Und so bauen wir uns – mit Hilfe einiger kreativer Denker – eine rational einleuchtende Geschichte zusammen.“ Sind Sie also etwa der Meinung, wir sollten nur Kriegsflüchtlinge, keine Wirtschaftsmigranten aufnehmen, finden Sie sich schnell in der politischen Gesellschaft jener wieder, die man als fremdenfeindlich, rassistisch etc. beschimpft. Da Sie das nicht wollen, wechseln Sie ins Lager derer, die jeden aufnehmen. Da das aber nicht zu Ihrer Meinung paßt, lösen Sie das Problem unbewußt, indem Sie nur noch Informationen wahrnehmen, die irgendwie zu bestätigen scheinen, daß jeder, der ins Land kommt, auch vor Krieg und Bomben flieht.

Wenn das so funktioniert, welchen Sinn haben dann noch politische Argumente? 

Sommer: Keinen entscheidenden, wichtiger sind die geschilderten Mechanismen. Und die Richtung, in die sie wirken, ist vom „Mainstream“ abhängig, also von den in der Gesellschaft vorherrschenden und von den Medien verbreiteten Narrativen. Diese sind es, die bei den meisten Leuten entscheiden, mit wem sie sich identifizieren und folglich wen sie wählen. Und sie können dann auch mal – das klingt hart – Nationalsozialismus oder Kommunismus heißen.  

Was heißt das, zum Beispiel für die AfD?

Sommer: Angesichts meiner Ergebnisse, die sich mit dem decken, was namhafte Psychologen sagen – einige habe ich genannt –, muß ich feststellen, daß die AfD ihre Lage durch Auftreten und Aussagen leider mitverschuldet hat – mitverschuldet deshalb, weil sie zusätzlich auch noch einer intensiven Negativdarstellung durch Institutionen, Medien und konkurrierende Parteien ausgesetzt ist. Diese beschreiben das selbst mit „nicht berichten – und wenn dann nur Schlechtes“. Mein Rat wäre daher, endlich den Wunsch der Bürger zum „Gutsein“ ernst zu nehmen und auf als abstoßend empfundene Aussagen zu verzichten. Wer meint, er müsse nicht auf  Sympathien jenseits seiner Kernwählerschaft achten, der wird Wähler, die man inhaltlich auf seiner Seite hat, dennoch nicht für sich mobilisieren können. 

Allerdings sind Sie weder Psychologin noch Soziologin, sondern Tierärztin im Ruhestand. Sind Sie also überhaupt kompetent, solche Untersuchungen anzustellen? 

Sommer: Ich denke ja, denn ich habe wissenschaftliches Arbeiten gelernt. Zudem ist meine nüchtern-biologische Sicht sogar von Vorteil, schließlich ging es darum, menschliches Verhalten zu beobachten und zu verstehen. Zumal das „Sociometer“ in den Bereich der Biologie gehört, denn es ist ein angeborenes Verhalten zum Schutz des Individuums durch die Gruppe in ursprünglichen Gesellschaften. Der Zusammenhalt, die Homogenität der Gruppe war überlebenswichtig. Deshalb, weil genetisch bedingt, ist das ständige Abgleichen und Herstellen von Harmonie in der Gruppe so bestimmend. Genetisch verankertes Verhalten läßt sich übrigens verblüffend gut bei vom Menschen gezüchteten Haustieren beobachten.   

Wie haben Sie eigentlich die Teilnehmer gefunden? 

Sommer: Bis auf einen alle über private Zusammenhänge. Allerdings kannte ich die meisten nicht näher. Sie sind aber aus unserer Gegend, weshalb der Untertitel des Buches „43 Interviews zu Migration in Schwaben“ lautet. Wichtig war, Durchschnittsbürger zu befragen, die im Mainstream schwammen, also mir nicht durch auffällige Äußerungen aufgefallen waren. Weiter waren es etwa gleich viel Frauen wie Männer in der Altersspanne zwischen dreißig und siebzig Jahren. Beruf war kein Kriterium, und sie waren eher „bildungsnah“ als „bildungsfern“. Dabei waren auch Zuwanderer aus Ost- und Südeuropa.

Sind 43 Personen nicht eine zu kleine Gruppe? 

Sommer: Die 43 Interviews erheben keinen Anspruch auf „Wissenschaft“. Aber da das Resultat sehr einheitlich ist und die Ergebnisse von Fachwissenschaftlern bestätigt, sehe ich einen Wert der zentralen Aussagen. Sie erklären, warum sich Bürger in Sachen Einwanderung politisch gegensätzlich zu ihren eigentlichen Ansichten verhalten.

Welche Gegensätze sind das zum Beispiel? 

Sommer: Der Hauptgegensatz ist, Zuwanderung per se als Bereicherung zu bewerten – während sie in den Interviews viele Punkte nannten, die eigentlich das Gegenteil nahelegen, sowie überraschend wenige Argumente, die dafür sprechen. 

Bitte Beispiele.

Sommer: Konkret wurde als Bereicherung fast ausschließlich das Essen genannt. Weiteres Nachfragen ergab, daß Zuwanderung von vielen als eine Art Reise-Ersatz empfunden wird: Statt fremde Länder zu besuchen, kommen diese nun zu uns. „Über den eigenen Tellerrand blicken zu können“ wurde als positiv beschrieben – sogar auch die Entdeckung, daß bei uns einiges „besser ist“. 

Keine Sachargumente? Was ist mit den Klassikern: Fachkräfte, Altenpfleger und Rentenbeitragszahler?

Sommer: Das ist eben, was ich mit gegensätzlich meine: Von den 43 Gesprächspartnern glaubten nur drei, daß die Zuwanderung einen positiven Beitrag für unsere Renten leisten wird. Und was den Sektor Arbeit angeht, so sahen fast alle nur dann einen positiven Effekt, wenn die Zuwanderung geregelt erfolgt. Was aber großteils nicht der Fall ist.

Was ist mit den Nachteilen, nach denen Sie ja auch gefragt haben?

Sommer: Bedenklich finde ich, daß eine häufige Antwort darauf war: „ICH habe keine Nachteile durch Migration!“ Als allgemeine Nachteile wurde durchaus mangelnder Integrations- und Leistungswille bei vielen Zuwanderern eingeräumt. Einige der Befragten machten sich deshalb auch Sorgen um den Sozialstaat und meinten, daß er von den Migranten „natürlich ausgenutzt wird“. Allerdings wurde deren geringe Erwerbsquote gerne damit entschuldigt, daß viele ja traumatisiert seien. Ebenfalls erstaunlich ist, daß erneut nur drei Gesprächspartner „glaubten“ – „sicher“ waren auch sie sich nicht –, daß die Zuwanderung sich unterm Strich für Deutschland auszahle. Alle übrigen sagten, daß sie uns mehr kostet, als bringt. Jedoch waren sie nicht bereit, das als Problem anzusehen, sondern vielmehr der Meinung, wir könnten und sollten uns das eben leisten. Was natürlich einfach ist, wenn man zuvor angibt, selbst von Nachteilen nicht betroffen zu sein. Was etwa den erhöhten Platz- und Ressourcenverbrauch durch Zuwanderung angeht, so wurde meist mit den Schultern gezuckt: dann sollten wir Einheimische uns eben etwas bescheiden, damit es für alle langt. Das Problem auf dem Wohnungsmarkt wurde anerkannt, doch damit gerechtfertigt, daß dieses „ja schon vorher da war“. Natürlich haben wir noch über viele weitere Themen gesprochen, wie Kriminalität, Terrorismus, Frauenrechte, Antisemitismus, Clans etc., all das finden Sie im Buch.

Ihr Buch „Intuition sticht Vernunft. Wie entsteht Meinung?“ ist als Reaktion auf Ihren ersten Band „Eine friedliche Migration wie viele zuvor in der Welt“ entstanden. Worin besteht der Zusammenhang? 

Sommer: Der Titel bezieht sich auf die verbreitete Vorstellung, da es Migration immer schon gegeben hat, seien die Ereignisse des Jahres 2015 historisch „normal“ – was mit „unbedenklich“ gleichgesetzt wird. Ich dachte, die Ursache für solche verharmlosenden Vorstellungen sei nur ein Mangel an Wissen und Aufklärung. Ergo müsse man den Leuten Fakten und Zusammenhänge vermitteln und sie würden ihre Sichtweise und auch ihr politisches Verhalten ändern. Und so habe ich Fakten zur Asylkrise 2015/16 zusammengetragen, die Vorgänge, Ursachen, Reaktionen nochmals dargestellt und mich mit den Konsequenzen beschäftigt. Und dabei an vielen historischen Beispielen gezeigt, daß eben auch Einwanderung, die nicht durch gewaltsame Eroberung geschah, oft drastische Folgen für die Einheimischen hatte. Die Formel, daß es sich „nur um eine friedliche Migration wie viele zuvor“ handelt, also falsch ist. Auch habe ich in diesem Buch schon das „Gutsein“, als Beweggrund analysiert und bin diesbezüglich auch auf den Unterschied zwischen Ost- und Westeuropa eingegangen. Die Trennungslinie geht ja interessanterweise längs durch Deutschland.  

Wie war die Reaktion? 

Sommer: Die erste Äußerung derjenigen, denen ich es zu lesen gab, war: „Das ist ja gar keine Hetze!“ Die Leser erwarteten, daß ein migrationskritisches Buch Haß und Hetze bedeutet, sie erwarteten also bezeichnenderweise den Autor im Lager der Rassisten und Fremdenfeinde. Ansonsten waren die Reaktionen ernüchternd, denn trotz der vielen Fakten und Hintergründe, die das Buch liefert, vermochte es die Meinung der Leser kaum zu beeinflussen. Das brachte mich zu der Frage: Warum ist das so? Wie  entsteht eigentlich Meinung? Was mich zu meinem Interviewprojekt und zum neuen Buch führte. 

Dessen Untertitel spricht von „43 Interviews“. Überraschenderweise ist im Buch aber kein einziges zu finden. 

Sommer: Seien Sie froh, denn das Buch wäre aus allen Nähten geplatzt, da die Gespräche zum Teil mehrere Stunden dauerten, Wiederholungen und Abschweifungen inklusive. Ich habe also die Interviews systematisch ausgewertet und aufbereitet, so daß man die Ergebnisse nun kompakt nachlesen kann. Zum Beispiel sind die erwähnten Widersprüche, die Selbstkorrekturen zusammengefaßt in einem eigenen Kapitel. Natürlich aber zitiere ich immer wieder aus den Gesprächen, um die Gedanken darzustellen. So gab es auch bemerkenswerte Einzelaussagen, die man zwar nicht verallgemeinern kann, die aber dennoch in ihrer Absurdität und Extremität mich zum Staunen brachten.

Sie selbst haben ja eine sehr kritische Meinung zur Einwanderung. Wie haben Sie es durchgehalten, stundenlang zuzuhören, ohne zu widersprechen?

Sommer: Das gehörte zum Prinzip der Gespräche, ich wollte ja lernen, nicht belehren. Ich bekam Routine darin. Und ich bot jedem Gesprächspartner eine Diskussion an. Leider, muß ich sagen, und auch bezeichnenderweise, wurde dieses Angebot nur einmal angenommen. Die Menschen wollten sich offensichtlich in ihrer Meinung und ihrem Fühlen nicht beirren lassen. Denn Nachdenken und womöglich das Weltbild ändern zu müssen, könnte unbequem sein. Diese 43 Interviews habe ich gemacht nach dem Grundsatz des Philosophen Spinoza, der in seinem „Tractatus Politicus“ schrieb: „Ich habe danach gestrebt, das Tun der Menschen weder zu belachen noch zu beweinen, noch zu verabscheuen – sondern es zu begreifen.“







Dr. Luise Sommer, die Tiermedizinerin, geboren 1950 in Ahaus/Westfalen, aufgewachsen in Unterfranken, veröffentlichte die Bücher „Eine friedliche Migration wie viele zuvor auf der Welt. Der Fall Deutschlands – Fakten, Wunschdenken, Zukunftszenarien“ (2020) und „Intuition sticht Vernunft. Wie entsteht Meinung? 43 Interviews zu Migration in Schwaben“.