© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/23 / 20. Januar 2023

Auf den Spuren Hegels
Lützerath: Die Grünen vereinen System und Systemkritik in einer Partei
Antje Hermenau

Die Ereignisse in Lützerath zeigen, wie bei den Grünen frei nach Hegel These und Antithese direkt miteinander verschmelzen. Die Revolution frißt ihre Kinder, würden wir im Osten sagen. Im Westen verweist man eher auf den Film „Das Leben des Brian“, in der sich die Judäische Volksfront und die Volksfront von Judäa unversöhnlich gegenüberstehen. Was geschieht dort also in diesem kleinen Dorf in Nordrhein-Westfalen? 

Die grüne Jugend und andere „Aktivisten“ kämpfen um einen Weiler, dessen Bewohner längst weggezogen sind und der auch kein schätzenswertes Biotop beherbergt. Einen Weiler, der ein so trostloses Stückchen Erde darstellt, daß man ihn unbedingt mit einem symbolischen Charakter für die Weltklimagerechtigkeit aufladen muß, um dort auch nur eine Minute lang und freiwillig im Schlamm zu stehen.

Die Fanatiker greifen die Polizei an, die auf rechtlich einwandfreier Grundlage ihre Pflicht tut, schwadronieren über „Bulldozer-Politik“ oder machen Selfies in blütenreinen Anoraks vor schlammigem Hintergrund. Immer wieder erklären die meist jungen Leute im Kanon ihren Widerstandswillen, „sie würden Front gegen das System machen“. So weit, so bekannt, so langweilig: eigentlich der besten Sendezeit nicht wert, die dafür verbraten wurde, vielleicht auch, um freudig wichtigere Dinge weglassen zu können. 

Der wirklich feine Humor der Geschichte besteht allerdings darin, daß die Grünen genau dieses System sind, das sie so lautstark zu bekämpfen vorgeben. Grüne stimmten im Bundestag und im Landtag der aktuellen Kohlepolitik der Bundesregierung zu. Der Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte ein Gesamtpaket zur Kohle vorgelegt, das den Ausstieg von 2038 auf 2030 vorzog. Das deckt sich mit den ökonomischen Interessen von RWE im Ausland, aber dazu später mehr. Die stellvertretende Ministerpräsidentin in NRW, Mona Neubaur (Grüne), verteidigt jedenfalls Habecks Entscheidung. Sogar der Polizeieinsatz wurde von einem Grünenmitglied geleitet. 

Bereits Ende 2022 hatten diverse andere Politiker der Ökopartei die Entscheidung zu Lützerath und der Kohlepolitik noch in Schutz genommen. Kein Wunder also, daß nun die „Fridays for Future“-Sprecherin Carla Reemtsma den Grünen Lügen vorwirft. Doch der ehemalige linke Bundesumweltminister Jürgen Trittin (Grüne) wies sogleich die Verbalinjurien zurück. 

Die Grüne Jugend, die sonst wie eine Schura beim Koran darauf achtet, daß die grünen Politiker jeden noch so unwichtigen Parteitagsbeschluß einhalten, schert sich unterdessen nicht um den Parteitagsbeschluß, der unter anderem auch das Abbaggern von Lützerath im Gesamtpaket beinhaltet. Auch die Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) blendet ihn aus. Stattdessen „solidarisiert“ sie sich mit den Protestierern wohlfeil auf Twitter. Unbeantwortet bleibt natürlich die Frage, wie eine Bundestagsvizepräsidentin Aktionen unterstützen kann, die sich gegen Recht und Gesetz richten. Naja. Es sind halt die Grünen.

Die Ökopartei stellt also die Staatsgewalt und Parlamentarier, sie stellt die Klimaaktivisten und sie ist Vehikel für eine Apo, die „das System“ bekämpft. Alle anderen Parteien scheinen bedeutungslos. Die Situation erinnert an die DDR und ihre Nationale Front, in der die SED alle anderen Parteien unter ihrer Führung zusammenpferchte. Die Grünen sind inzwischen alles in Personalunion: die Staatstragenden, die kritischen Fragesteller, die Anführerinnen von Bewegungen und die gewaltbereiten Linksextremisten – eine quicklebendige Partei mit vielen Gesichtern, möchte man meinen. Eine Partei, in der zwanzigjährige Mitglieder tönen wie über 60jährige Mitglieder einst klangen. Eine Partei, die sich treu bleibt in ihren Grundfesten. 

Nun ja, für den Pazifismus und das Verbot von Waffenlieferungen gilt das nicht mehr so sehr, aber bei der Kohle, da bleiben sie jetzt hart. Ganz sicher. Das ist auch ganz wichtig für die jungen Leute und deren Zukunft, deshalb will man ja auch das Wahlalter auf geschmeidige 16 Jahre herabsetzen. Wofür sollte man die Alarmsirenen der deutschen Politik sonst noch wählen, wenn nicht für einen Zukunftsentwurf? Bei der Gestaltung der Gegenwart überzeugen sie aktuell jedenfalls nicht. 

Interessant ist zudem eine putzige Anekdote am Rande: Was passiert eigentlich mit dem Unternehmen RWE und seinem Umfeld? Der Energiekonzern investiert in den USA in einen großen Solaranbieter, benutzt dafür die Steuergelder, die RWE für den Atom- und Kohleausstieg kassiert. Natürlich machen sie jetzt gerne etwas mehr in Kohle, wenn sie dafür acht Jahre eher aus dem niedergehenden Deutschland abwandern können – quasi mit goldenem Handschlag, diese Greenwasher. Guter Deal! Und dabei sind die sieben Prozent, die BlackRock an RWE hält, vielleicht weniger wichtig als die Rolle, die Katar – mittlerweile auch der größte Anteilseigner bei RWE – in Nordrhein-Westfalen für die Energieversorgung bekommt. All das verdeckt der Zoff um den verlassenen Weiler. 

Kompromiß gegen Kompromißlosigkeit, Kopf gegen Herz – der ganze Schmerz, die ganze Zerrissenheit, das ganze Leiden an der Wirklichkeit, kurzum: Hegel als Volkstheater. Wird dieser Spagat die Grünen nun zerreißen? Hat Thomas Haldenwang aus verfassungsschutzrechtlichen Gründen nicht darauf hingewiesen, daß die Luisa-Neubauer-Gruppe linksextremistischen Gewalttätern eine Plattform biete, was ihn besorgt stimme? War das nicht eine freundliche Einladung, zurück in die Reihen der Koalition zu kommen? Das war vielleicht auch nur Theater.

Wenn die verteilten Rollen absichtlich so vergeben wurden, wird es die Grünen natürlich nicht zerreißen – gute Inszenierung. Wenn aber jetzt die Geister, die sie mit „Fridays for Future“ riefen, um an die Macht zu kommen, nun dazu führen, daß sie das System sind, das von ihnen gleichzeitig bekämpft wird, dann vielleicht schon. Aber dieses Spiel der verteilten Rollen lief jahrzehntelang. Vielleicht lassen es ihnen die Bürger ja wieder durchgehen. Geschickt gemacht. Oder es entzweit am Ende die Koalition, die mit diesem wahnwitzigen Getanze der grünen Derwische nichts mehr zu tun haben will.






Antje Hermenau saß zwischen 1994 und 2004 für Bündnis90/die Grünen im Bundestag.