Einen kurzen Moment komme ich mir wie der einzige Alteingesessene im Bahnwaggon vor. Zwei Afrikaner sitzen vor mir. An der Tür lehnen einige Orientalen in Monteurskluft. Ein Inder in Fluguniform stellt seine Tasche auf den Boden. Die meisten glotzen auf ihre Handys. Hinter mir telefoniert ein Dicker auf rumänisch.
Die Bahn hält, die Tür geht auf. Und die deutsche Quote schnellt nach oben. Auf dem Nebensitz nimmt ein blonder Junge mit Rucksack in Begleitung einer älteren Frau Platz. Er mag 12 Jahre alt sein, spricht gewähltes Deutsch. Die alte Frau mag seine Großmutter sein. Jedenfalls hat sie ihn vom Flughafen abgeholt, um nun seinem ausführlichen Reisebericht zu lauschen. Der aufgeweckte Kerl schildert, sie fragt nach, er erzählt, sie nickt.
Wer sind die Schuldigen, daß der Junge die deutschen Namen der Städte gar nicht kennt?
Offenbar war er mit einer Pfadfindergruppe in Polen. Und offenbar war ein besonderes Kulturprogramm für die Jugendlichen zusammengestellt worden. Es gab Besuche von NS-Gedenkstätten, einem Konzentrationslager und dem Führerhauptquartier Wolfsschanze. Das volle Programm.
Euphorisch schildert der Knirps Etappen seiner Fahrt. „Wir kamen in Gdansk an“, sagt er. „Wir sind dann Richtung Olsztyn weiter“, berichtet er. „Und am Ende sind wir noch in Poznań gewesen.“ Die Alte nickt stets interessiert.
Ich überlege, ob ich mich einschalten soll. Ob ich ihn fragen soll, ob er schon einmal etwas von Danzig, Allenstein und Posen gehört hätte? Und ob er auch dort gewesen wäre? Und ob ihm auch bekannt ist, daß vor 75 Jahren Kinder in seinem Alter in diesen Städten lebten, die ebenfalls verreisten, in Richtung Westen, wenngleich weniger freiwillig.
Dann denke ich, daß er erst 12 ist, es nicht besser wissen kann. Andere sind daran schuld, daß er die deutschen Namen der Städte, in denen er war, offenbar gar nicht kennt. Die Jugendbetreuer der Pfadfinder. Die Lehrer. Die Medien. Die Großmutter, die sich über die Rückkehr des Enkels freut und lediglich nickt.
Ich sage nichts, hole mein Handy heraus und glotze darauf.