© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/23 / 13. Januar 2023

Stalins letzter Feldzug galt den Juden
Verhaftungen, Folter und Morde: „Ärzteverschwörung“ als Motiv antisemitischer Verfolgung in der Sowjetunion
Thomas Schäfer

Im „Großen Vaterländischen Krieg“ betrachtete der sowjetische Diktator Josef Stalin die Juden als natürliche Verbündete gegen Hitler. Nach dem Sieg änderte sich seine Haltung dann jedoch, was auch dem späteren Regierungs- und Parteichef Nikita Chruschtschow auffiel: „In Stalins (...) Hirn wuchs der Antisemitismus wie ein Tumor.“ Ausdruck dessen waren zunehmende Repressionsmaßnahmen gegen jüdische Intellektuelle in der Sowjetunion, denen die vom Kreml gelenkte Presse unterstellte, sie seien „Agenten des amerikanischen Geheimdienstes“ und „böswillige Kosmopoliten“, welche eine „zionistisch-imperialistische Verschwörung“ gegen die UdSSR planten. Wegen dieses Vorwurfs wurden in der Nacht vom 12. zum 13. August 1952 13 jüdische Schriftsteller, Ärzte, Journalisten und Übersetzer im Keller des Moskauer Lubjanka-Gefängnisses exekutiert (JF 33/22). Doch bei dieser Gewaltorgie sollte es nach Stalins Willen nicht bleiben.

Gleichzeitig resultierte die nächste Verfolgungswelle aber auch aus einem Machtkampf zwischen dem Minister für Staatssicherheit Wiktor Abakumow und dem Politbüromitglied und stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates Georgi Malenkow, der zu dieser Zeit faktisch der zweite Mann im Staate nach Stalin und dessen Intimus war. Als Werkzeug Malenkows fungierte dabei Abakumows Vize Michail Rjumin. Der hatte den jüdischen Kardiologen Jakow Etinger bereits im November 1950 beschuldigt, den Leiter der Informationsabteilung des Zentralkomitees der KPdSU Alexander Schtscherbakow durch eine absichtliche Fehlbehandlung getötet zu haben. 

Allerdings schenkte Abakumow diesen Vorwürfen keinen Glauben, weswegen Rjumin schließlich direkt bei Stalin vorstellig wurde. Dies zeitigte vier Folgen: Zum ersten wurde Abakumow im Juli 1951 seines Amtes enthoben und später hingerichtet. Zum zweiten kamen ab September 1952 37 Ärzte mit jüdischem Hintergrund in Haft. Zum dritten gab sich der Diktator auf einer Sitzung des Politbüros am 1. Dezember 1952 überzeugt, daß es in der sowjetischen Ärzteschaft viele „jüdische Nationalisten“ und „Saboteure“ gebe. Und zum vierten tönte Stalin drei Tage später vor dem KPdSU-Präsidium mit Blick auf die Führung des Staatssicherheitsdienstes: „Blind seid ihr wie junge Katzen, was wird nur ohne mich – das Land wird untergehen, wenn ihr es nicht versteht, die Feinde auszumachen.“ Wobei er Abakumows Nachfolger Semjon Ignatjew zuvor bereits eine heftige Szene gemacht hatte, die Chruschtschow so beschrieb: „Stalin tobte vor Wut, schrie Ignatjew an und drohte ihm. Er verlangte, er solle die Ärzte in Ketten legen, zu Brei zerstampfen und zu Pulver zermahlen.“

Vor diesem Hintergrund startete die Prawda, das Zentralorgan der KPdSU, am 13. Januar 1953 eine Kampagne gegen „Bösartige Spione und Mörder unter der Maske akademischer Ärzte“, welche sich verschworen hätten, „das Leben der Führer der Sowjetunion durch medizinische Sabotage zu verkürzen“ – und zwar im Auftrag US-amerikanischer Geheimdienste. Als Kronzeugin trat dabei eine Ärztin am Kreml-Krankenhaus namens Lydia Timaschuk auf, welche für ihre Denunziation der „Bande unmenschlicher Bestien“ den Lenin-Orden erhielt. Zu den nunmehr Beschuldigten zählten unter anderem Boris Schimeljowitsch, ehemals Oberster Chirurg der Roten Armee, Stalins Leibarzt Miron Wowsi sowie die jüdischen Mediziner Feldman, Grinschtein und Kogan. Später wurde zudem noch die Moskauer Ärztin und Schwester des ersten israelischen Staatspräsidenten Maria Weizman verhaftet.

Neben diversen wilden Unterstellungen brachten die UdSSR-Medien im Januar 1953 auch Listen von angeblichen weiteren Opfern der „Ärzteverschwörung“ neben Schtscherbakow. Darin fanden sich beispielsweise das Politbüro-Mitglied Andrej Schdanow, die Marschälle der Sowjetunion Leonid Goworow und Iwan Konew sowie der Admiralsinspektor der Marine Gordej Lewtschenko und Alexander Wassilewski, von 1949 bis 1953 Verteidigungsminister der Sowjetunion. Allerdings lebten diese vier Spitzenmilitärs samt und sonders noch, weswegen der Vorwurf hier nur auf Fehlbehandlung lautete.

Stalin wollte die Beschuldigten unmittelbar im Anschluß an einen großen Schauprozeß öffentlich auf dem Roten Platz hinrichten lassen, doch dazu kam es nicht mehr. Kurz nachdem der Diktator zum wiederholten Male detaillierte Informationen über den Stand der Ermittlungen erhalten hatte, erlitt er zwei Schlaganfälle, die am Abend des 5. März 1953 zu seinem Tod führten. Möglicherweise erregte sich Stalin zu stark darüber, daß die „Beweiskette“ noch nicht vollkommen geschlossen werden konnte, weil die jüdische Kardiologin Sophia Karpai nicht einmal durch Folter zu dem Geständnis zu bewegen war, einen Befund Schdanows böswillig falsch interpretiert zu haben. 

Stalins Tod vereitelte Deportation und Massenhinrichtungen 

Nach Stalins Ableben wurden die Verfahren komplett eingestellt und die Verhafteten auf Anweisung von Innenminister Lawrenti Beria freigelassen. Dies vermeldete am 4. April 1953 auch die Prawda, nachdem das Präsidium der KPdSU die jüdischen Mediziner am Vortag offiziell entlastet hatte. Dabei vergaß das Blatt nicht zu erwähnen, daß der Hauptbelastungszeugin Timaschuk der Leninorden wieder aberkannt worden sei. Schlimmer traf es hingegen Rjumin, den scheinbar obersten Verantwortlichen für die Konstruktion der Affäre: Er wurde am 17. März 1953 verhaftet, am 7. Juli 1954 zum Tode verurteilt und am 22. Juli des selben Jahres erschossen. 

Soweit die unstrittigen Fakten. Unklar bleibt jedoch, was Stalin für die Zeit nach der juristischen Aufarbeitung der angeblichen „Ärzteverschwörung“ plante. Manche Historiker meinen, der Massenhinrichtung in Moskau sollte die Deportation aller sowjetischen Juden nach Sibirien oder möglicherweise sogar der systematische Genozid folgen, allerdings existieren hierzu keinerlei schriftliche Quellen. Dagegen läßt sich allerdings einwenden, daß der Deportation der Tschetschenen im Jahre 1944 ebenfalls kein schriftlicher Befehl Stalins zugrunde lag. Natürlich wäre auch die spätere Vernichtung solch brisanter Dokumente in Betracht zu ziehen.