© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/23 / 13. Januar 2023

Die FDP als Hafen für die Ehemaligen
Im Januar 1953 wurde ein vermeintlich rechter Putsch gegen die junge Bundesrepublik abgewehrt / Die „Naumann-Affäre“ offenbarte allerdings die Absichten früherer NS-Kader, parteipolitischen Einfluß zu nehmen
Karlheinz Weißmann

Am 14. Januar 1953 veröffentlichte die britische Regierung ein Kommuniqué, das die Verhaftung folgender Personen durch ihre Sicherheitskräfte mitteilte: „Dr. Werner Naumann (ehemaliger Staatssekretär im Goebbelsschen Propagandaministerium. Hitlers Testament bestimmte Naumann zum Nachfolger von Goebbels als Reichspropagandaminister); Dr. Gustav Scheel (ehemaliger Reichsstudentenführer und eine Zeitlang Gauleiter von Salzburg. Hitlers Testament sah ihn für den Posten des Reichskulturministers vor); Paul Zimmermann (ehemaliger SS-Brigadeführer und Beamter in der Wirtschafts- und Verwaltungsabteilung der SS, welche mit der Verwaltung der Konzentrationslager in Zusammenhang stand); Dr. Heinrich Haselmayer (war mit Hitlers Münchener Putsch von 1923 verbunden und war Führer des Nationalsozialistischen Studentenbundes in Hamburg. Gab Bücher über Rassenwissenschaft und Sterilisierung von Erbkranken heraus); Heinz Siepen (ehemaliger NSDAP-Ortsgruppenleiter und Landrat, jetzt Teilhaber der Punktalstahlwerke in Solingen); Dr. Karl Scharping (ehemaliger Beamter in der Rundfunkabteilung des Reichspropagandaministeriums).“ 

Am Folgetag erschien eine weitere Meldung mit Bezug auf die Festnahme von Karl Kaufmann, ehemaliger Gauleiter von Hamburg, während die Ergreifung des früheren HJ-Gebietsführer Karl Friedrich Bornemann erst später gelang. Die Genannten wurden in das Militärgefängnis nach Werl verbracht. Gegen sie sollte Anklage erhoben werden, wegen Verschwörung mit dem Ziel, in Deutschland ein Regime ähnlich dem nationalsozialistischen zu errichten und somit die Sicherheit des Empires zu gefährden.

Knapp zwei Jahre später, am 3. Dezember 1954 beendete der Sechste Strafsenat des Bundesgerichtshofs die „Naumann-Affäre“, indem er die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen die Beschuldigten Naumann und Bornemann ablehnte. Alle übrigen waren bereits früher außer Verfolgung gesetzt worden. Der BGH kam zu dem Ergebnis, daß der „Zirkel“ keine Vereinigung mit klar definierten Strukturen gewesen sei und ihm konkrete Pläne zur Wiedererrichtung des NS-Staates nicht nachgewiesen werden konnten.

Dazwischen lag die Übergabe der Angelegenheit an die Behörden der Bundesrepublik durch die Alliierte Hohe Kommission. Was weniger auf den allmählichen Abbau der alliierten Vorbehaltsrechte, eher auf das Bemühen zurückzuführen war, sich eine Blamage zu ersparen. Davor hatte es diverse Versuche des Hauptangeklagten Naumann gegeben, sich politisch wieder ins Spiel zu bringen. Naumann hatte den Untergang des „Dritten Reiches“ in der nächsten Umgebung Hitlers erlebt, floh in letzter Minute aus Berlin und tauchte unter, bis er 1950 meinte, gefahrlos in die Öffentlichkeit zurückkehren zu können. Zuvor hatte er bereits Kontakt zu Gruppen „Ehemaliger“ aufgenommen, darunter hohe Funktionäre, die noch einmal zu Einfluß gelangen wollten. Die von ihnen vorgeschlagenen Strategien hielt Naumann allerdings für aussichtslos: Weder die Idee der sogenannten Bruderschaft, eine Art „Orden“ zu bilden, der im Geheimen auf den „Tag X“ hinarbeitete, noch den Plan, mehr oder weniger offen an die alten Muster anzuknüpfen, wie er von der Sozialistischen Reichspartei (SRP) verfolgt wurde, hielt er für aussichtsreich. 

Abgrenzungskurs der Kleinparteien am rechten bürgerlichen Rand

Naumann dachte stattdessen an einen „Entrismus“ durch Kader früherer Nationalsozialisten, die in eine der etablierten – und nicht vom Verbot wegen Verfassungsfeindlichkeit bedrohten – Parteien eintreten sollten. Nach Lage der Dinge kamen dafür weder die CDU/CSU noch die SPD in Frage. Das Liebäugeln mit der linksneutralistischen Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP) blieb Episode, weshalb sich das Interesse Naumanns auf die kleineren Parteien am rechten Rand des bürgerlichen Lagers konzentrierte: den Gesamtdeutschen Block beziehungsweise Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten (GB/BHE), die aus der Tradition der Welfen hervorgegangene und vor allem in Niedersachsen stärker vertretene Deutsche Partei (DP) und die FDP.

Da der GB/BHE aus Sicht Naumanns kein brauchbares Programm besaß und der DP-Vorsitzende Heinrich Hellwege einem scharfen Abgrenzungskurs gegenüber „Unverbesserlichen“ folgte, blieben faktisch nur die Freien Demokraten als denkbares Ziel der Infiltration. Verlockend erschien Naumann diese Möglichkeit vor allem, weil zu seinen wichtigsten Kontakten Ernst Achenbach gehörte, eine einflußreiche Figur des nordrhein-westfälischen FDP-Landesverbands. Dessen Vorsitzender Friedrich Middelhauve suchte schon länger nach Möglichkeiten, die Entschieden-Liberalen im Parteivorstand um Reinhard Maier und Thomas Dehler zu schwächen und das Projekt einer „Nationalen Sammlung“ voranzutreiben, in der die FDP und die kleineren Rechtsparteien aufgehen sollten. 

Das Konzept kam demjenigen Naumanns auch deshalb entgegen, weil Achenbach begonnen hatte, eine wachsende Zahl ehemaliger NS-Funktionäre zur Mitarbeit in der FDP heranzuziehen. Trotzdem blieb eine gewisse Reserve. Bei einem geheimen Treffen in Hamburg am 18. November 1952 erklärte Naumann jedenfalls: „Ob man eine liberale Partei am Ende in eine NS-Kampfbewegung umwandeln oder mit einer föderalistischen Gemeinschaft großdeutsch handeln kann, möchte ich bezweifeln, wir müssen es aber auf einen Versuch ankommen lassen. In der politischen Landschaft unserer Übergangszeit sind Parteien dieser Art durchaus positiv zu beurteilen (...) Gäbe es keine FDP, müßte sie noch heute gegründet werden“.

Wenige Tage später war von dieser Einschätzung nichts mehr übrig, denn Middelhauve scheiterte auf dem FDP-Parteitag in Bad Ems vom 20. bis 22. November 1952 mit seinem „Deutschen Programm“. Naumann vollzog deshalb einen Schritt, den er bis dahin bewußt vermieden hatte, und wandte sich der einzigen Gruppe der „Nationalen Opposition“ zu, die über einen gewissen Grad an Professionalität verfügte: der Deutschen Reichspartei (DRP). Noch kurz zuvor wußte Naumann deren Namen zu kritisieren, der ihm zu aggressiv erschien. Aber solche Vorbehalte hatten nun offenbar Gewicht verloren. Er nahm engere Verbindung mit den führenden Köpfen der DRP auf und erklärte, daß er sich als Kandidat für die Bundestagswahl im folgenden Jahr zur Verfügung stelle.

Spätestens zu dem Zeitpunkt hätte Naumann seine verdeckte Strategie aufgeben müssen. Aber tatsächlich liefen schon im Herbst 1952 Presseberichte über ihn und den „Gauleiter-Kreis“ um, regelmäßig verbunden mit der Warnung vor einer „neofaschistischen“ Gefahr und Unterwanderung der FDP. Derartige Meldungen waren im Grunde nur denkbar, weil der britische Geheimdienst mit gezielten Indiskretionen arbeitete, die den Schlag im Januar 1953 vorbereiten und flankieren sollten. Das Kalkül ging allerdings nicht auf. Denn der Hochkommissar Ivone Kirkpatrick hatte damit gerechnet, durch beschlagnahmtes Material überhaupt erst an die Beweise zu kommen, mit denen er seine Anschuldigungen rechtfertigen konnte. Eine Erwartung, die trog, und auch die Vernehmung der Inhaftierten führte zu nichts. Eher erleichtert übergaben die Briten sie den westdeutschen Behörden. Die resignierten aber auch rasch und setzten Naumann am 28. Juli 1953 auf freien Fuß, während das Verfahren pro forma weiterlief.

Wählerpotential mit NS-Sympathie wesentlich kleiner als erwartet

Das entsprach ganz und gar nicht den Erwartungen der Bundesregierung. Doch die Judikative zeigte sich ausgesprochen harthörig gegenüber allen Versuchen der Einflußnahme. Man fürchtete nicht zuletzt, einen „nationalen Märtyrer“ zu schaffen. Eine Fehleinschätzung, wie sich zeigen sollte. Denn Naumann gelang es keineswegs, aus der veränderten Lage Vorteile zu ziehen. Seine Kandidatur für die Reichspartei blieb schon im Ansatz stecken, weil ihn die nordrhein-westfälische Landesregierung im Schnellverfahren einem Entnazifizierungsprozeß unterwarf, der mit der Einstufung in die Kategorie II – „Schwer Belasteter“ – endete und ihm faktisch alle politischen Wirkungsmöglichkeiten nahm. Zudem war das Wählerpotential der DRP wesentlich kleiner, als Naumann erwartet hatte, und mit 1,1 Prozent der Stimmen kamen die Reichsparteiler nicht einmal in die Nähe der auf Bundesebene eingeführten Fünf-Prozent-Klausel.

Naumann hat das offenbar als Signal betrachtet, sich politisch zurückzuziehen. Ein Schritt, den erleichterte, daß ihm Harald Quandt nach dem Ende des Prozesses den Posten eines Direktors der Firma Busch-Jaeger anbot. Quandt war ein Sohn von Magda Goebbels aus erster Ehe, und gelegentlich wurde die Vermutung laut, daß die Einstellung Naumanns, der über seine herausragende Stellung im Propagandaministerium direkten Zugang zur Familie Goebbels hatte, auch ein Zeichen des Dankes dafür war, daß er den Selbstmord von Quandts Mutter und die Ermordung seiner Halbgeschwister im Führerbunker zu verhindern gesucht hatte.

Fotos: Wahlplakate von SPD, FDP, CDU, KPD, DP und BHE in Frankfurt am Main in der jungen Bundesrepublik: Eine Bruderschaft für den „Tag X“ war aussichtslos; Werner Naumann (M.) bei seiner Verhaftung 1953, als SS-Bridageführer 1944 (kl. Foto): „Gäbe es keine FDP, müßte sie noch heute gegründet werden“