Über Jahre wurden Journalisten, die sich dem neuen woken Diktat in der Presse nicht unterwerfen wollten, gecancelt, intern gepiesackt und vergrault. Doch die Mainstreammedien haben sich damit neue Konkurrenz selbst herangezüchtet. Denn anstatt störende, unliebsame Stimmen loszuwerden, hat man sie jetzt erst recht lauter denn je im Nacken sitzen – in den USA und in Deutschland.
Tucker Carlson, Piers Morgan, Gabor Steingart, Harald Martenstein, Julian Reichelt, Judith Sevinc Basad, Ralf Schuler: sie alle haben, nachdem sie geschaßt wurden oder entnervt gegangen sind, neue Arbeitgeber gefunden oder gleich eigene Medienmarken aufgebaut.
Geschichten, die ignoriert oder falsch dargestellt werden
Ein Beispiel für letzteres ist die Journalistin Bari Weiss. Aus Protest gegen den wachsenden Einfluß junger, identitätspolitisch-linker Redakteure hatte die 38jahrige 2020 bei der New York Times gekündigt und die Zeitung kritisiert, diese habe vor Twitter-Meuten kapituliert und sie zu wenig gegen mobbende Kollegen verteidigt. Nachdem die gebürtige Pittsburgherin unter anderem als Kolumnistin für die deutsche Welt tätig war, hat sie das Online-Magazin The Free Press gegründet, das eine Weiterentwicklung ihres gleichnamigen Substack-Newsletters darstellt.
Mit der Aufarbeitung der von Elon Musk freigegebenen Twitter-Akten zu Zensurmaßnahmen bei dem Kurzmitteilungsdienst (JF 51/22) gelang Weiss ein kleiner Coup, der ihrer Popularität zusätzlichen Schub verlieh. Und auch ein weiterer Offenleger und Sezierer der Twitter-Akten, Michael Shellenberger, schreibt für das Medien-Startup. Dort erscheinen Teile der Twitter-Leaks, die zuerst in 30teiligen Threads auf dem Kurzmitteilungsdienst veröffentlicht wurden (Seite 7), als zusammenhängende Reportagen.
The Free Press will „investigative Geschichten und provokante Kommentare veröffentlichen, wie die Welt aktuell ist – mit der einst von etablierten Zeitungen erwarteten Qualität, aber mit der Furchtlosigkeit der neuen Medien“. Das Projekt versteht sich als „freie Presse für freie Bürger“ und fokussiert sich daher auf Geschichten, „die ignoriert oder im Dienst ideologischer Narrative falsch dargestellt werden“.
Hinweise zu Themen und Vorfällen können über tips@thefp.com an die Redaktion gesendet werden. Es gehe laut den Verantwortlichen auch darum, eine Community zu bilden. Unterstützer können einzelne Artikel kommentieren, und dies wird reglich genutzt: über 1.000 Wortmeldungen verzeichnen einige Beiträge. „Think for yourself“ lautet die Aufforderung an die eigenen Leser. Diese erwartet ein volles Programm von nationaler und internationaler Politik über Kultur und Wirtschaft bis hin zu Debatten und Wissenschaft.
Und Weiss rekrutiert fleißig alte Kollegen von der New York Times. So konnte sie beispielsweise die Journalistin Nellie Bowles gewinnen, die sich auf Technologie-Themen aus dem Silicon Valley spezialisiert hat. Von der konservativen Konkurrenz, der New York Post, ist Suzy Weiss dazugekommen. Weitere feste Autorinnen sind Rupa Subramanya oder Olivia Reingold, die unter anderem auch für das Wall Street Journal beziehungsweise Politico schreiben. Bari Weiss versammelt diejenigen hinter sich, die woke Medien gerne hätten: junge ambitionierte Power-Frauen.
Männliche Stimmen sind der erfahrene Journalist Peter Savodnik, der US-Schriftsteller Walter Kirn, der afroamerikanische Kolumnist Coleman Hughes sowie der kalifornische Universitätsprofessor Vinay Prasad, der sich wiederholt kritisch gegenüber den strikten Corona-Maßnahmen geäußert hat.
Daß das über Spenden finanzierte Projekt wächst, verdeutlichen auch die zahlreichen Stellenausschreibungen für den Sitz in Los Angeles vom Reporter und Social-Media-Redakteur bis zum Podcast-Produzenten für das wöchentliche Audioformat „Honestly“.