© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/23 / 13. Januar 2023

Machtgewinn durch Machtverzicht?
Essay: In der europäischen Kultur ist immer wieder und auf verschiedenen Wegen versucht worden, politische Macht einerseits zu sichern, andererseits zu begrenzen
Traute Petersen

Am 13. Januar 27 v. Chr. erwartet die politische Klasse Roms ein bis dahin unerhörtes Schauspiel. Nach jahrelangen blutigen Bürgerkriegen will der Sieger über Rivalen und Gegner, der berüchtigte „Schlächter von Perugia“, der selbsternannte Inhaber diktatorischer Gewalt über unermeßliche militärische und finanzielle Machtinstrumente seine Ausnahmegewalten an die Verfassungsorgane zurückgeben – freiwillig. In einem präzedenzlosen Akt der Selbstbescheidung sollen innerer Frieden und republikanische Ordnung wiederhergestellt werden.

Obwohl sich die beteiligten Akteure über die Modalitäten dieses Staatsakts in Schweigen hüllten, erlauben die Ergebnisse Rückschlüsse auf das, was sich da vier Tage lang hinter geschlossenen Türen abspielte: mit Rollen und Stichworten, die selbstverständlich zwischen den Protagonisten zuvor abgesprochen worden waren, ein Verhandlungsmarathon zwischen den Repräsentanten der verfassungsmäßigen Ordnung und dem Noch-Machthaber, einem kriegserprobten Mittdreißiger, dem man die selbstlos angebotene Rolle des Privatmanns nicht zugestehen mochte – die einen wegen dessen bewunderten Verdiensten, die anderen wegen dessen kaltblütiger Skrupellosigkeit.

Am Ende hatte der zwischen verschiedenen Seiten geschickt manövrierende Hauptakteur fast alles Gewünschte erreicht: eine Bündelung entscheidender politisch-militärischer Machtpotentiale in seiner Person, deren herausragende Stellung in neuartigen Ehrungen und Privilegien bis hin zu einer neuen Namensgebung gewürdigt wurde. Als Octavian verließ der Usurpator am 13. Januar die politische Bühne. Als Augustus, der „Erhabene“, trat er am 16. Januar aus den Kulissen ins schillernde Licht der neuen Ordnung. Die hier begründete „Augusteische Friedensära“ endete erst mit dem symbolträchtigen Tod ihres Begründers. Wie als Siegel auf den erfolgreichen Machtpoker jener Tage starb er hochbetagt und friedlich in einem einfachen italischen Landhaus seiner Vorväter, um anschließend in pompösen, von ihm selbst minutiös festgelegten Trauerfeierlichkeiten in Rom wie ein König aufgebahrt und wie ein Gott verehrt zu werden.

Hartes Ringen widerstrebender Kräfte hinter verschlossenen Türen

Der 13. Januar vor 2050 Jahren – ein Modell für Machtgewinn durch Machtverzicht? Ein Beispiel für Politik als „Kunst des Möglichen“? Oder eher ein Meisterstück politischer Camouflage? Bereits der viertägige „Staatsakt“ vollzog sich weniger als feierliche Geste denn als hartes Ringen widerstrebender Kräfte um ein kompliziertes „do ut des“ – etwa in der Teilung militärischer Befehlsgewalten zwischen dem alt-neuen Machthaber und den Vertretern der alten Ordnung oder im Kompromiß bei der Suche nach einem Ehrennamen für den „Wiederhersteller der Republik“. Hätte der sich doch gern als zweiten Stadtgründer, als zweiten „Romulus“ feiern lassen. Aber ein Königsname war in der römischen Republik nicht vermittelbar, wohl aber das vieldeutige Attribut der „Erhabenheit“.

Aus heutiger Perspektive schaffte jener 13. Januar die Grundlage eines schließlich breit akzeptierten imperialen Herrschaftssystems, einer klug kalkulierten balance of power zwischen Machtgewinn und Machtverzicht. Der berechnend verfaßte Rechenschaftsbericht des alten Augustus schließt freilich mit dem plakativen Bild echten Machtverzichts: in freiwilligem Verzicht habe er das Gemeinwesen aus seiner persönlichen Verfügungsgewalt zurückgegeben. Der ganze Staatsakt also doch eher Camouflage? 

Augustus’ Behauptung dient, wie so oft in der Memoirenliteratur, vor allem der Selbststilisierung. Echten Machtverzicht kennen wir nur aus höchst seltenen Beispielen: Der Gesetzgeber Solon etwa ging freiwillig ins Exil, um seine Mitbürger zu nötigen, mit seinen Gesetzen künftig ohne seine Hilfe zu leben. Und auch der Diktator Sulla legte zum Beweis, daß er seine politische Aufgabe als erfüllt betrachtete, seine unbeschränkte Gewalt nieder und zog sich ins Privatleben zurück. Aber schon Karl V.,  in dessen Reich die Sonne nicht unterging, wählte resignierend die klösterliche Einsamkeit – nicht, weil er seine gewaltige Aufgabe für erfüllt hielt, sondern weil er sich ihr nicht mehr gewachsen fühlte. Echter Verzicht auf politische Macht fällt offenbar so schwer, daß selbst die rechtzeitige Nachfolgeregelung kaum gelingt, oft erst durch Gewalt oder Aufruhr erzwungen werden muß.

In Demokratien ermöglichen freie Wahlen einen Machtwechsel

Deshalb hat man in der europäischen Kultur immer wieder und auf verschiedenen Wegen versucht, politische Macht einerseits zu sichern, andererseits zu begrenzen. Die republikanische Tradition des frühen Rom, die noch im Staatsakt von 27 v. Chr. durchschimmert, oder die spätere, ganz andere englische Konstruktion des „king in parliament“ beweisen hierbei eine hohe Kunst elastischen Krisenmanagements durch tragfähige Kompromisse. Konsequent entwickelten aber erst die neuzeitlichen Demokratien stabile verfassungsrechtliche Vorgaben für Machtgewinn und Machtverlust: vor allem das Mehrheitsprinzip und regelmäßige freie Wahlen mit der Möglichkeit des Machtwechsels zwischen Regierung und Opposition. Machtgewinn also als Ziel in Wahlkämpfen, Machtbesitz für eine begrenzte Amtszeit, möglicher Machtverlust im nächsten Wahlgang – festgelegte Verfahrensregeln also, die inzwischen nicht mehr in tagelangem „do ut des“ hinter verschlossenen Türen mühsam ausgehandelt werden müssen.

In modernen Krisenzeiten aber stehen sie erneut auf dem Prüfstand: Wieweit erscheinen sie eher als Kulissen für eigenmächtige Machtaspirationen? Wieweit eher als Etikettenschwindel? Wieweit nur noch als Gegenstand der Mißachtung, als quantitée négligeable? 

So nutzte Hitler für seine Machtergreifung den konstitutionellen Rahmen mit Hilfe eines zahnlos und verächtlich gemachten Parlaments. Mit ungeniertem Zynismus verkündet heutzutage ein hoher EU-Funktionär, man werde das öffentliche Mißtrauen gegenüber dem großen RESET durch unauffällig-unverdächtige Maßnahmen Schritt für Schritt ablenken und beschwichtigen, bis man das Ziel erreicht habe. Jenseits des Atlantiks verfährt man gegebenenfalls noch weniger zimperlich: In Washington weigert sich ein abgewählter Präsident und steinreicher Selfmademan, den demokratisch entschiedenen Verlust der Macht zu akzeptieren. In Brasilia erklärte ein noch amtierender Präsident bereits im Vorfeld der Wahlen, er werde das Wahlergebnis nur akzeptieren, wenn es ihn bestätige. In Moskau und Peking bedienen sich die neuen Alleinherrscher perfekt organisierter (volks)demokratischer Massenaufmärsche mit unabsehbaren Fahnenmeeren und öffentlichkeitstauglichen Bildern der Kooperation mit (volks)republikanischen Institutionen.

Aber sind das letztlich nicht ähnlich öffentlichkeitswirksame totalitäre Herrschaftselemente wie in der in jenen Januartagen angeblich „wiederhergestellten römischen Republik“? Kam es nicht auch in Rom, in Italien, schließlich im ganzen römischen Imperium zu massenhaften, perfekt inszenierten und choreographierten Formen öffentlicher Zustimmung – in uniformierter Festkleidung, mit einem Meer von Palmzweigen als Friedenszeichen? 

Die damals begründete Augusteische Friedens­ära stützte sich im Inneren auf einen fragilen, aber zumindest formal respektierten Ausgleich zwischen dem kaltblütigen Machtkalkül des Aufsteigers und den offiziellen Repräsentanten der traditionellen Ordnung. Dieser Ausgleich ermöglichte die tragfähige Befriedung zerstrittener Parteien. Entsprechend verzichtete der neue Machthaber nach außen, spätestens nach der militärischen Katastrophe im Teutoburger Wald, auf weitere territoriale Expansion und ermöglichte damit die weitgehende Befriedung bisher umstrittener Reichsgrenzen. 

Heutige Machthaber wie Xi Jinping in Peking oder Putin in Moskau wählen den umgekehrten Weg: Nach innen setzen sie auf die physisch-psychische Ausschaltung von Kritikern, nach außen auf territoriale Expansion mit Gebietsansprüchen wie Taiwan oder Ukraine. Verhandlungsbereitschaft, wenn sie denn angeboten wird, zielt auf Verzögerung oder Zeitgewinn, wie etwa im Minsker Abkommen. Das Erkenntnispotential historisch-politischer Erfahrung – erfolgreiches Aushandeln des Neuen im kalkulierten Verzicht auf bestehende oder erhoffte Machtansprüche und im geschickten Spiel mit den Bällen von Machtgewinn und Machtverzicht– hat offenbar für die Machtphysik moderner Alleinherrscher keine nennenswerte Bedeutung. 






Dr. Traute Petersen arbeitete im schleswig-holsteinischen Hochschul- und Schuldienst. Sie veröffentlicht zu historischen, bildungspolitischen und kunstgeschichtlichen Themen.

Foto. Schlachtszene mit Octavian, umbenannt im Jahr 27 v. Chr. in Augustus, „der Erhabene“,  (Liebig-Sammelbild, 1939): Er beendete die Bürgerkriege nach Caesars Ermordung und befriedete als erster römischer Kaiser das Reich