© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/23 / 13. Januar 2023

Dorn im Auge
Christian Dorn

In meinem Kopf kreist noch immer ihr Kommentar zum Nähe-Distanz-Problem: „Borderline hin oder her“ – damit macht sie’s sich nicht schwer. Doch tatsächlich ist es das wohl längst, weshalb keine andere Reaktion möglich ist. Madonna machte daraus einst einen brillanten Popsong, dessen Text so rätselhaft offen und unübersetzbar bleibt („you just keep on pushing my love over the borderline“), eine künstlerische Sublimierung in perfektionierter Performance (so in der Tonight Show von Jimmy Fallon), die den dahinter lauernden Abgrund der Leere nicht ahnen läßt. Das war zu Beginn der Achtziger, als NDR 2, der – obwohl in der DDR – für unsere Famile eine Art Heimatsender war, auch die einzigartig melancholischen Lieder von Bob Seger spielte wie „Still the Same“ und „Against the Wind“. Seltsam, wie diese zwei Songs bis heute auf mich wirken, als sprächen sie jedesmal neu zu einem.

Die Linkspartei wirbt auf einem Wahlplakat mit der Losung: „Alle glauben an den Markt. Wir nicht.“

Doch zurück in den Alltag, der Blick vor die Haustür: Dort wirbt die Linkspartei mit einem Wahlplakat. Dessen Losung auf rotem Grund: „Alle glauben an den Markt. Wir nicht.“ Daß die Kommunisten ungläubig sind, ist nicht neu. Doch für eine Neuerung im Währungssozialismus des Euro-Raums wäre auch ich zu haben: ein Zutrittsverbot für Mitglieder und Wähler der Partei Die Linke – gültig für jeden Supermarkt, jeden Discounter, jeden Bäcker- und Fleischerladen, jede Boutique, überhaupt für jedes nichtstaatliche Fachgeschäft.


Zum Dreikönigstag meldet das Boulevardblatt B.Z., die Kolumne „Mein Ärger / Der gerechte Zorn des Gunnar Schupelius“, der vormals Regierende Bürgermeister Michael Müller habe in der Relotius-Revue überrascht zur Auskunft gegeben, „daß die Stadt schmutzig ist“. Passend zu dieser Realsatire wirkt der Streifen „The Art of Authenticity“ vom jüngsten Berliner Kurzfilmfestival. Der Pressetext hierzu: „Dreck, Gestank, Urin. An vielen Ecken wirkt Berlin nicht gerade einladend. Doch wer sorgt eigentlich für dieses so ‘authentische’ Berlin-Gefühl? Die Antwort lautet: die Berliner Behörde für Stadtauthentizität, kurz BfSa. Schade nur, daß deren engagiertester Mitarbeiter so wenig Anerkennung für seine anstrengende und herausfordernde Tätigkeit bekommt.“ Das ändert sich für einen Moment, als der Filmemacher und Hauptdarsteller Carlo Oppermann die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz betritt und auf die Frage der Moderatoren, was ihm perspektivisch Sorge mache, geistesgegenwärtig antwortet, daß es inzwischen zu viele „Trittbrettfahrer“ gäbe.


Wenige B.Z.-Seiten später stoße ich erneut auf dubiose Anzeigen, diesmal von Irakern, die unter der Rubrik „Verloren und Gefunden“ wegen ihrer „verloren“ gegangenen Reisepässe inserieren, für die gleich passend Name und gewünschte ID-Nummer angegeben werden – offenbar ein Fälschungsgeschäft, über das ich mich bereits vor etlichen Jahren mit der Jugendrichterin Kirsten Heisig ausgetauscht hatte, die ebenfalls auf diese verdächtigen Anzeigen gestoßen war und diese augenscheinlich kriminellen Machenschaften aufklären wollte. Wenig später schied sie aus dem Leben.