Man muß Chems-Eddine Hafiz, dem Rektor der Großen Moschee von Paris, nicht dankbar sein, aber eines läßt sich nicht leugnen: Seine inzwischen wieder zurückgezogene Strafanzeige wegen „Aufstachelung zum Haß gegen Muslime“ gegen den Schriftsteller Michel Houellebecq hat die öffentliche Debatte um Äußerungen des Bestsellerautors noch einmal kräftig angeheizt. Auslöser war das brillante Gespräch zwischen zwei der schillerndsten intellektuellen Persönlichkeiten Frankreichs, eben dem preisgekrönten Houellebecq und dem populären Philosophen Michel Onfray.
Worum geht es? Michel Onfray und Stéphane Simon, die beiden Mitbegründer des Magazins Front Populaire, trugen sich seit dem Frühjahr 2022 mit dem Gedanken, mit Houellebecq – häufig in Medien als „Prophet des Untergangs“ charakterisiert – einen Gedankenaustausch zu organisieren. Man sei verzweifelt gewesen über den Verlauf der letzten Präsidentschaftswahl, bei der von Bewerbern und Medien die Frage nach der „Zivilisation“ und deren Niedergang so gut wie gar nicht behandelt wurde.
Das Gespräch nun dauerte mehr als sechs Stunden und wurde in der im Dezember erschienenen 144seitigen Sonderausgabe der Zeitschrift publiziert. Neben dem Untergang des Abendlandes (oder auch synonym gebraucht: des Westens) reichte die Themenpalette von der Existenz Gottes, über Euthanasie und Abtreibung, der Europäischen Union, Todesstrafe und Umweltschutz bis hin zum „großen Bevölkerungsaustausch“.
Houellebecqs Aussagen in diesem Gespräch zum Islam sowie zum Zuzug von Muslimen und deren (Nicht-)Integration in westliche Gesellschaften nahm Moschee-Rektor Chems-Eddine Hafiz zum Anlaß, dem 66jährigen Autor des dystopischen Romans „Unterwerfung“ eine undifferenzierte „Beleidigung“ aller Muslime vorzuwerfen. Am 28. Dezember erstattete er Anzeige gegen Houellebecq. Inzwischen kam es jedoch vergangenen Donnerstag auf Initiative und im Beisein des Großrabbiners von Frankreich, Haïm Korsia, zu einer Unterredung zwischen Hafiz und Houellebecq, in deren Verlauf der Schriftsteller zwei seiner Aussagen zwar modifizierte, was der Prägnanz seiner Äußerungen indes keinen Abbruch tat. Dabei räumte er ein, daß die „betreffenden Passagen zweideutig“ und aus dem Kontext gerissen seien – vornehmlich ging es um die Prophezeiung eines bevorstehenden Bürgerkrieges. Nach der Zusammenkunft zog Hafiz seine Anzeige zurück, zumal Houellebecq ankündigte, die inkriminierten Absätze in einer geplanten Buchausgabe zu ändern.
Das auch von vielen Medien hierzulande als skandalös empfundene Gespräch zwischen Onfray und Houellebecq thematisiert den allgemeinen Niedergang Frankreichs. Das einleitende Zitat von Blaise Pascal: „Überall sehe ich mich um und sehe überall nur Dunkelheit“ ist auch Houellebecqs
Motto. „Frankreich verfällt zwar nicht mehr als die anderen europäischen Länder, doch es hat ein außergewöhnlich hochstehendes Bewußtsein über seinen eigenen Niedergang“, konstatiert er. Eine wesentliche Ursache sei die Demographie. Während Onfray den Transhumanismus verantwortlich macht, erkennt Houellebecq die Gefahr im Islamismus.
Trotz einer weiteren kontroversen Haltung in bezug auf Euthanasie und Abtreibung (der Atheist Onfray ist dafür, der Agnostiker Houellebecq dagegen) eint sie ihre „totale Ablehnung“ der Europäischen Union. Houellebecq, der eine besondere Liebe zu Deutschland empfindet, sei nicht aus „Nationalismus oder Patriotismus“ gegen Europa: „Mir wurde im Gegenteil im Alter von fünfzehn Jahren bewußt, daß Deutschland erstaunlich anders als Frankreich war. Das war faszinierend.“ Er lernte noch weitere europäische Länder und ihre Andersartigkeit kennen: „Damals verstand ich – wenn man Europa macht, wird diese ganze Vielfalt verschwinden und durch das amerikanische Modell ersetzt.“
Die Frage, ob Houellebecqs 2015 veröffentlichtes Buch „Unterwerfung“ Science-fiction sei, leitete zu einem weiteren Thema des Gesprächs, zum Islam, über. Die Handlung des Romans spielt im Jahr 2022. Der Autor fühle sich als Prophet überschätzt, habe er sich doch mit seiner Annahme geirrt, im letzten Frühjahr würde ein gemäßigter Muslim Präsident werden. Doch immerhin könne er sich zu einer Vorhersage in seinem Buch beglückwünschen: „Ich hatte geahnt, daß die Universität einer der ersten Orte der Zusammenarbeit mit dem Islamismus sein werde. Das war damals noch nicht evident, die woke Bewegung existierte in Frankreich nicht.“
Einig waren sich Onfray und Houellebecq über die oft unzureichende Assimilierung muslimischer Minderheiten, gerade in jenen Gebieten, wo arabische Bewohner die Kontrolle über ihr Stadtviertel übernommen haben. Onfray zweifelt jedoch an der Möglichkeit einer „Reconquista“ dieser Territorien. Sein Gegenüber kontert: „Als die Reconquista in die Wege geleitet wurde, stand Spanien unter muslimischer Herrschaft. In dieser Situation befinden wir uns noch nicht. Was man aber bereits feststellen kann, ist, daß sich die Leute bewaffnen. Sie besorgen sich Gewehre und nehmen Unterricht an Schießständen. Und das sind keine Hitzköpfe.“
Houellebecq fährt fort mit der gegenüber dem Rektor der großen Moschee nunmehr korrigierten Aussage, er persönlich glaube nicht daran, daß die Bedingungen für einen Bürgerkrieg aktuell gegeben seien: „Dazu bräuchte es zunächst einmal, daß die Polizei tatsächlich nicht mehr in bestimmte Viertel vorstoßen könnte; das ist nicht der Fall: Sie haben manchmal Probleme damit, sie müssen umfangreiche Hilfsmittel einsetzen, aber sie schaffen es. Auch wäre es erforderlich, daß die Armee selbst nicht mehr hier eindringen könnte: Und das, das scheint mir momentan unwahrscheinlich.“
Die inkriminierte Passage lautete zunächst: „Wenn ganze Territorien unter islamistischer Kontrolle sein werden, dann glaube ich, daß es Akte des Widerstands geben wird. Es wird Attentate und Schießereien in Moscheen und in den von Muslimen frequentierten Cafés geben – kurzum, umgekehrte Bataclans. Und die Muslime werden sich nicht damit begnügen, Kerzen aufzustellen und Blumensträuße abzulegen. Die Dinge können also ganz schön schnell gehen.“
Für Onfray existiert der Bürgerkrieg bereits unterschwellig: „Täglich lassen sich die Menschen verprügeln und von Motorrollern überfahren. Von Banden von sechs oder sieben Straßenjungen, die mit Hammerschlägen Überfälle verüben.“ Er denke, „daß wir zu einer primitiven Herde gelangen, mit dominanten Männchen, die in den Banlieues das Gesetz des Dschungels verbreiten, indem sie die Frauen, die Kinder und die Alten unterjochen“. Präsident Macron erkenne diesen Zustand der Gewalt, in dem wir uns befinden, jedoch nicht. Das heißt: „Die Existenz verlorener Territorien wird von ganz oben nicht eingestanden.“ Macron habe sich entschieden, so Onfray weiter, „zu unseren Feinden jedes Mal ‘danke’, ‘bitte’ und ‘Pardon’ zu sagen“. Er verwies auf das Buch des Philosophen Jean-François Revel. Dieser habe in „So enden die Demokratien“ die Lage ganz richtig erfaßt, „als er davon ausging, daß sich die Demokratien in Todesgefahr begäben, sobald sie die Meinung vertreten, man solle weiterhin lächeln, wenn man sich beleidigen, mit Füßen treten und sich niedermetzeln lasse. Und so weit sind wir.“ Dennoch erscheint ihm ein Aufruhr gegen den Islamismus „leider wenig wahrscheinlich. Die Menschen möchten lieber unterworfen leben, als frei und triumphierend sterben. Jedesmal, wenn die Leute sich attackieren lassen, senken sie das Haupt. Und die Menschen drumherum greifen nicht ein. Das ist menschlich.“
Houellebecq frage sich immer, wann den „Intersektionalisten“ endlich ihr flagrantester Widerspruch bewußt werde: „der frontale Gegensatz zwischen dem Islam und dem Feminismus“. Die sexuelle Gewalt von Köln habe ihm „die Augen geöffnet“. Sobald Probleme mit dem Islam oder der Migration auftauchten, „halten die Feministinnen die Klappe“. Die aus dem Westen seien gar nicht so gefährlich, „sie sind ebenso feige wie die westlichen Männer, ganz genauso bereit, sich zu unterwerfen“.
Die Linken und auch andere spielten dies herunter, „sie lassen uns wissen, daß die arabischen Muslime zwar weiße Frauen vergewaltigen, daß man ihnen aber jahrelang ihre Würde geraubt habe durch den Kolonialismus, so daß sie in Wirklichkeit Opfer sind. Für die Linken sind die Vergewaltiger Opfer des weißen Privilegs.“ Das sei der „Opferdiskurs“, demzufolge „ein Weißer immer im Unrecht ist, weil er von Weißen abstammt, die Völkermörder sind“. Umgekehrt habe „eine farbige Person immer recht, weil sie von kolonialisierten und versklavten Farbigen abstammt“.
Einen Unterschied zu einer muslimischen Migration erkennt Houellebecq bei Einwanderern aus Asien. Diese seien in Frankreich „die am meisten geschätzte ethnische Minderheit“, obwohl sie jahrzehntelang die am wenigsten assimilierte gewesen sei. Im 13. Arrondissement, wo Houellebecq lange Zeit lebte, „gab es in meinem Umfeld fast keinen einzigen Chinesen über 50, der Französisch sprach“ – obwohl seit über 30 Jahren in Frankreich ansässig: „Sie lebten in einer Parallelwelt mit ihrer Parallelökonomie“, so der Schriftsteller weiter. Noch immer gebe es sogar Webseiten auf chinesisch, die die Franzosen gar nicht kennen, und auf denen man fast alles finden könne: Elektriker, Taxifahrer und selbst Prostituierte. Die Chinesen waren also „nicht im geringsten assimiliert, und das lief – aus einem einzigen Grund – hervorragend: Es gab weniger chinesische Delinquenten als französische im selben Alter. Viel weniger.“ Die meisten Franzosen wollten seiner Meinung nach gar nicht, daß sich die Muslime assimilierten, „sondern daß sie aufhören, sie zu bestehlen und anzugreifen, daß sie das Gesetz und die Menschen respektieren. Oder auch – eine weitere gute Lösung – daß sie fortgehen.“
Auch diese Passage wurde vom Rektor der Großen Moschee moniert. Houellebecq fügte ihr zur Verdeutlichung in einer korrigierten Version an: „Der Schleier, der Burkini, das Halal-Essen werden den Franzosen total egal sein, sobald sie die Muslime nicht als eine Bedrohung ihrer Sicherheit wahrnehmen. Was sie erbitten und sogar fordern, ist, daß die ausländischen Delinquenten ausgewiesen werden und die Justiz strenger mit den kleinen Delinquenten umgeht. Sehr viel strenger.“
Glaubt Michel Houellebecq tatsächlich an den „großen Austausch“?, wurde er gefragt. Zunächst sei er „sehr geschockt gewesen, daß man dies als Theorie bezeichnet. Es ist keine Theorie, es ist ein Faktum.“ Der von Renaud Camus konstatierte „große Austausch“ oder „um präziser zu sein, die Veränderung der ethnischen und religiösen Zusammensetzung der europäischen Bevölkerung, ist eine statistische Evidenz“. Auch wenn er nicht Camus’ Auffassung einer „organisierten Verschwörung“ teile: „Bei der Migration kontrolliert keiner irgend etwas – das ist ja gerade das Problem.“ Es gebe einfach eine „erdrückende demographische Realität“.
Die Zusammenkunft zwischen Houellebecq und Hafiz verließ Großrabbiner Korsia nach Angaben der Pariser Zeitung Le Figaro übrigens mit der Genugtuung, „einen für alle Parteien sinnlosen und schädlichen Prozeß“ vermieden zu haben. Der weltweit meistgelesene Autor sei „ein außerordentlich großer Schriftsteller, ein außerordentlich großer Denker“. Houellebecq selbst vertraute dem Figaro an, „aufrichtig erleichtert und froh über diesen Ausgang zu sein“ und daß er seine „Äußerungen präzisieren konnte“.
Sonderausgabe der Zeitschrift „Front Populaire“: Fin de l’Occident? Houellebecq und Onfray – La Rencontre, Les Èditions du Plénïtre, F-92300 Levallois-Perret, 144 Seiten, 13,90 Euro