Für den einsamen Matrosen, der am Abend des 21. November an Deck seines Frachters patrouillierte, sollte sein Wachdienst zum Albtraum eines jeden Seemannes werden: Sein Schiff hatte soeben im Hafen von Mongla Anker geworfe, einem der wichtigsten Binnenhäfen Bangladeschs, nahe der Metropole Khulna, der drittgrößten Stadt des Landes, im weitläufigen Gangesdelta gelegen. Im schwachen Licht der Dämmerung näherten sich plötzlich zwei Dingis, die in der bengalischen Flußlandschaft traditionell gebräuchlichen Plankenboote, und vertäuten sich seitlings des Schiffs. Mindestens achtzehn maskierte Männer, erklärte der Matrose später beim Verhör durch die Küstenwache, hätten zu dieser Gelegenheit das Deck geentert, schwer bewaffnet mit langen Messern, und ihn gewaltsam festgehalten.
Daß der Matrose noch rasch den Alarm auslösen konnte, rettete wahrscheinlich die Leben einiger seiner Crewmitglieder. Wie viele Schiffe dieser Bauweise besaß auch der angegriffene Frachter eine sogenannte „Zitadelle“: Einen verstärkten Schutzraum im Inneren des Schiffs, in welchem sich die Seemänner bei Gefahr verbarrikadieren können. Den achtzehn Angreifern blieb nicht mehr als die Spinde zu plündern und sich aus dem Staub zu machen. Ihre versuchte Lösegeldforderung für den gefangenen Matrosen war fehlgeschlagen, und die Küstenwache näherte sich bereits auf Schnellbooten. Der Matrose selbst, so ist dem Protokoll zu entnehmen, kam noch einmal mit dem Schrecken sowie einigen kleineren Schnittwunden davon.
Barbaresken verdienten ihr Geld im Sklavenhandel mit Europäern
So filmreif diese Episode auch klingen mag: Sie entstammt nicht der Phantasie windiger Abenteuerautoren, sondern ist exakt auf diese Weise geschehen. Und sie besitzt eine Fortsetzung. Denn bei ihrer Jagd auf die achtzehn Angreifer konnte die bangladeschische Küstenwache zumindest einen Teilerfolg erzielen. Nur zwei Tage nach dem Überfall stürmten die Beamten ein Lagerhaus an den bewaldeten Ufern des Deltas und sicherten die Beute aus diesem sowie vorhergehenden Raubüberfällen: Eine gewaltige Menge an Maschinenteilen und Seilen, Gaskartuschen und Farbeimern konnte den glücklichen Eigentümern zurückgegeben werden. Den Angreifern auf die „AS Elenia“ hingegen, so der Name des unter liberianischer Flagge fahrenden Frachters, war mit einem Sprung ins Wasser allesamt noch einmal die Flucht gelungen.
Piraten, Korsaren, Freibeuter: Als Schrecken der Sieben Weltmeere hatten Seeräuber bereits seit Menschengedenken unter verschiedensten Namen die maritimen Handelswege beinahe sämtlicher Kontinente heimgesucht. Mal unter der Flagge einer einflußreichen Nation oder mit dem Kaperbrief konkurrierender Kronen ausgestattet, mal nur zum eigenen Profit für Glaube, Gold und Geiseln unter hohen Segeln – der Mythos der Piraterie ist aufgrund zahlreicher Unterhaltungsliteratur kaum noch von Abenteuer und Heroismus, aber auch Draufgängertum und leichter Lebenssitte zu trennen. So machte sich bereits in der Antike der jugendliche Julius Cäsar einen Namen, als er, von den Kilikischen Seeräubern in der Ägäis gekidnappt, seine Entführer verspottete, da diese ein seiner Meinung nach viel zu geringes Kopfgeld für ihn verlangten. Nach seiner Freilassung verfolgte Cäsar eigenhändig die an seiner Entführung beteiligten Seeräuber und ließ allesamt zur Strafe kreuzigen.
Auch für die damals noch jungen Vereinigten Staaten war die Seeräuberei der Grund ihres ersten militärischen Engagements außerhalb des amerikanischen Kontinents: Der Pascha des Barbareskenstaates von Tripolis, der heutigen Hauptstadt Libyens, hatte seit der Unabhängigkeit der USA immer höhere Tributzahlungen von Philadelphia – bis 1800 Hauptstadt der USA – verlangt, um die US-Flotte vor Kaperungen durch seine Korsaren zu bewahren. Ende des 18. Jahrhunderts betrug die Tributhöhe bereits ein Viertel des gesamten Staatshaushalts. Nach einem erfolglosen Angriff auf Tripolis gelang US-Marines im Mai 1805 schließlich die Einnahme der ostlibyschen Stadt Dema, woraufhin die tripolitanischen Korsaren kapitulierten. Es war das erste Mal in der Geschichte, daß die US-Flagge nach einem Sieg auf fremdem Boden gehißt wurde. Im Verlauf der kommenden zwei Jahrhunderte sollte Tripolis jedoch noch öfter von US-Truppen bombardiert werden – wenn auch aus gänzlich anderen Gründen.
Für die muslimischen Barbareskenstaaten des südlichen Mittelmeers ging mit der Niederlage in den Barbareskenkriegen ein blühendes Geschäft des Handels mit Hunterttausenden weißen, christlichen erbeuteten Sklaven zugrunde – und ihre Staaten gleich mit. Das einträgliche Geschäftsmodell blühte hingegen von der Karibik bis ins Südchinesische Meer an neuen Küsten auf – und prosperiert an manchen dieser historischen Gestade bis heute. Wie grundlegend der Welthandel auch im 21. Jahrhundert von seinen Seewegen abhängig ist, erwies sich zuletzt im März 2021, als der vierhundert Meter lange Frachter „Ever Given“ im Suezkanal steckengeblieben war und nicht nur seine eigene Weiterfahrt, sondern auch jene Hunderter anderer Schiffe blockierte. Allein durch den Suezkanal, schätzen Experten, verlaufen rund zehn Prozent der globalen Handelsschiffsrouten.
Ein ähnliches wichtiges Nadelöhr bildet die Straße von Malakka, die auf etwa tausend Kilometern Länge die Malaiische Halbinsel samt dem Stadtstaat Singapur von der indonesischen Insel Sumatra trennt. Etwa ein Drittel der Rohöltransporte der Welt wird durch die Straße von Malakka geführt; ebenso ein großer Anteil der ostasiatischen Gütertransporte für die Verbrauchermärkte Europas. Mehr als dreihundert Schiffe passieren täglich ihre engste Stelle von kaum mehr als einem halben Kilometer Breite.
Die moderne Piraterie floriert vor allem in asiatischen Gewässern
Für moderne Piraten gleicht die Straße von Malakka allein schon aus geographischer Hinsicht einem offenen Bankett. Es verwundert unter den gegebenen Prämissen nur wenig, daß allein in den drei Tagen vor dem Überfall auf die „AS Elenia“ in der Meerenge westlich Singapurs gleich drei weitere Piratenangriffe auf Handelsschiffe verzeichnet wurden. Auch die Statistik beweist: Von den etwa 120 Piraterievorfällen, die seit Januar 2022 weltweit gemeldet wurden, fanden rund 70 in asiatischen Gewässern statt – und davon mindestens 48 allein in der Straße von Malakka.
Von sämtlichen Anrainerstaaten dieser Meerenge zeigt sich die indonesische Flotte bislang am schlechtesten gerüstet, um gegen diese Piraten mit meist indonesischer Staatsbürgerschaft wirksam vorzugehen. Seit der Jahrtausendwende hält Jakarta von daher ein Kooperationsabkommen mit der Regionalmacht Indien aufrecht. Letztere setzt zunehmend auf unbemannte Luftüberwachung von der Andamanen-Inselgruppe aus, um der Seeräubern Herr zu werden. Doch auch private Organisationen wie die in Tokio ansässige „Nippon Foundation“ investierten über die vergangenen Jahre Hunderte Millionen von US-Dollar zur Sicherung der wichtigen Passage. Nicht zuletzt aus Eigennutz. „Es ist auch eine Lebensader für Japan“, erklärt die finanzkräftige Organisation, „denn durch diese Meerenge werden mehr als 80 Prozent der Ölimporte unseres Landes transportiert.“
Tatsächlich zeigt der Einsatz internationaler Seestreitkräfte in den Krisengebieten der Piraterie bereits Wirkung. So unter anderem am Horn von Afrika: Vor anderthalb Jahrzehnten noch galten die Küsten vor Somalia als piratenverseuchte Gewässer. Seit der Kaperung des US-Containerschiffs „Maersk Alabama“ durch einheimische Kriminelle im April 2009 zeigt neben Indien auch die US-Marine im Indischen Ozean Flagge. Drei der vier beteiligten Piraten, die den Kapitän des Schiffs als Geisel genommen hatten, konnten damals von Scharfschützen auf offener See eliminiert werden. Der vierte Pirat, der erst 18jährige Abduwali Abdulkadir Muse, wurde 2011 vom New Yorker Bundesbezirksgericht zu einer Haftstrafe von fast 34 Jahren verurteilt – zur Abschreckung anderer Seeräuber, wie der Richter begründete. Die drakonische Strafe zeigte auch in Somalia Wirkung. Seit 2018 wurde am Horn von Afrika kein einziger Piratenangriff mehr vermeldet. „Diese Meldung ist ein Beweis für fast fünfzehn Jahre engagierter Zusammenarbeit, um die Bedrohung durch Piraterie im Indischen Ozean zu verringern“, bestätigte jüngst die „Internationale Schiffahrts-Kammer“ (ICS) in einer Erklärung.
Auch die globale Statistik läßt besonders Angehörige der Handelsmarine aufatmen: Wurden um 2010 weltweit noch jährlich rund 450 Angriffe vermeldet, sank deren Anzahl in diesem Jahrzehnt um gut siebzig Prozent. Etablieren konnte sich allerdings der Golf von Guinea als neues Wirkungsgebiet der Piraterie. So wurden vor den Küsten von Sierra Leone bis zur Demokratischen Republik Kongo, Angaben der französischen Wochenzeitschrift L’Express zufolge, allein im Jahr 2020 mindestens 142 Seeleute entführt.
In ihrer neuen Strategie geht es den Piraten dabei längst nicht mehr um den Diebstahl der mitgeführten Ladungen. „Mit der Verbesserung der Überwachungsmethoden wurden die Tätigkeiten der Schwarzhändler immer riskanter“, erläutert Dirk Siebels, Analyst des dänischen Sicherheitsunternehmens „Risk Intelligence“, im Interview mit dem französischen Blatt. „Sie bevorzugen nun Entführungen, was schneller und einfacher ist und mehr Geld einbringt.“ Ein entführter Seemann, so Experten, bringe je nach Rang und Staatsbürgerschaft zwischen 50.000 und 100.000 US-Dollar an Lösegeld ein.
Die Risiken für die Piraten sind dabei beträchtlich, und oftmals entkommen diese nur mit Beute in geringem Wert. Beim jüngsten Überfall auf einen Frachter in der Straße von Malakka gelang es den drei Angreifern am 13. Dezember lediglich, einem Matrosen sein Mobiltelefon zu entwenden, bevor die Piraten vor der eintreffenden Küstenwache zu fliehen hatten. Bei aller Effizienz von Aufklärung und schnellen Eingreiftruppen bleibt gerade in den Küstenstaaten der betroffenen Regionen der Nährboden für Nachwuchs unter den Piraten jedoch auf tragische Weise weiterhin fruchtbar.
Armut und grassierende Arbeitslosigkeit treiben immer neue Jugendliche in die Arme maritimer Kriminalität. „Wir hatten ja keine Perspektive“, erzählen zwei aus der Haft entlassene Somalis, die sich zum Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT in einer düsteren Spelunke in den Slums von Vancouver eingefunden haben. „Unsere Meere waren leergefischt, unser Land befand sich im Bürgerkrieg. Wir haben uns einfach ein besseres Leben erträumt.“ Ihr 2011 in den USA verurteilter Landsmann Abduwali Muse kann diesen Traum sicher nachvollziehen: Er war erst zwölf Jahre alt, als er aus seinem verarmten Elternhaus ausriß und als Koch für lokale Fischer anheuerte. Daß der letzte unrühmliche Einsatz seiner kurzen Flucht aus der Armut sogar mit Tom Hanks in der Hauptrolle im Blockbuster „Captain Phillips“ verfilmt wurde, wird Abduwali Muse dabei nur ein schwacher Trost sein. Der „Schrecken der Sieben Weltmeere“ wird frühestens im Jahr 2045 wieder seine Freiheit genießen dürfen.