© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/23 / 13. Januar 2023

Mit der Geduld am Ende
Pakistan-Afghanistan- Konflikt: Islamabad geht hart gegen die Taliban vor /Drohungen in Richtung Kabul
Marc Zoellner

Kurz vor Weihnachten drohte die Situation zu eskalieren: Soeben noch waren pakistanische Soldaten im unwegsamen Grenzgebiet zwischen der pakistanischen Provinz Khyber Pakhtunkhwa und der afghanischen Provinz Nangahar mit der Errichtung eines Stacheldrahtzauns beschäftigt, als plötzlich mehrere Jeeps voll schwer bewaffneter afghanischer Talibankämpfer vorfuhren. Unter Androhung von Gewalt zwangen die Taliban die Militärs zum Rückzug, um gleich im Anschluß mit der Demontage des Zauns zu beginnen. Erst als die pakistanische Armee Kampfhubschrauber in Richtung des Konfliktherds entsandte und Mörsergranaten abfeuerte, ließen die Taliban von ihrem Einsatz ab. Es war mehr dem Glück als der Diplomatie zu verdanken, daß am 18. Dezember vergangenen Jahres keine größeren Kampfhandlungen ausbrachen. Wie zwei Taliban-Sprecher der Nachrichtenagentur Reuters später bestätigten, war die Situation „äußerst angespannt“.

Gut 2.600 Kilometer Grenze teilen sich die beiden Staaten Pakistan und Afghanistan; angefangen in den vegetationsarmen Chagai Hills im südwestlichen Dreiländereck zum Iran über die fruchtbaren Täler des Hindukusch bis hin zum spärlich besiedelten, strategisch jedoch bedeutsamen Wakhan-Distrikt, Afghanistans Korridor für den Handel mit China. Erst Ende November vergangenen Jahres, so berichtet die afghanische Kabul Times, habe der afghanische Wirtschaftsminister Nuruddin Azizi in einer Videokonferenz mit Peking um chinesische Investoren zum Ausbau einer Fernverkehrsstraße durch den Korridor geworben. In und um Wakhan teilt sie das Volk der schiitisch-islamischen Wakhi in gleich vier Staatsgebiete auf. Auf ihrem Weg von Iran nach China führt sie überdies quer durch das Siedlungsgebiet des Volks der Paschtunen, welches seitdem in zwei Staaten getrennt lebt.

Nachbar Indien sieht Pakistan nicht nur als Opfer 

 Für die Taliban sind derzeitige Debatten um die Grenze eine Gratwanderung. Offiziell erkennt Afghanistan die Grenzziehung seit der Unabhängigkeit Pakistans von 1947 nicht an. Unter dem Wahlspruch „Tiefland oder Hochland, Afghanen sind eins“, streben verschiedene paschtunische Bewegungen, die die Begriffe „Paschtunen“ und „Afghanen“ gleichsetzen, eine Wiedervereinigung ihres Volkes an. Auch die Taliban rekrutieren ihre Milizionäre zuvorderst aus paschtunischen Volksstämmen – insbesondere aus jenen, die sich die Union mit der pakistanischen Provinz Khyber Pakhtunkhwa auf die Fahnen geschrieben haben. Doch während des Bürgerkriegs in Afghanistan galt Pakistan als enger Kooperationspartner der Taliban.

Pakistan hingegen hat bis heute das Taliban-Regime nicht offiziell anerkannt. Islamabad sieht sich stattdessen einer akuten Bedrohung der eigenen Sicherheit durch den pakistanischen Ableger der afghanischen Taliban, die „Tehrik-i-Taliban Pakistan“ (TTP), ausgesetzt. Seit etwa 2007 kämpft die TTP nicht nur auf seiten der afghanischen Taliban im Bürgerkrieg, sondern ebenso gegen das pakistanische Militär in den ehemaligen „Stammesgebieten“, die entgegen dem Willen vieler Paschtu-Nationalisten im Jahr 2018 von Islamabad in die Provinz Khyber Pakhtunkhwa eingegliedert wurden. Erklärtes Ziel der TTP ist die Abspaltung der von Paschtunen besiedelten „Stammesgebiete unter Bundesverwaltung“ (FATA), innerhalb der Khyber-Pakhtunkhwa-Provinz, von Pakistan sowie die folgende Vereinigung mit einem Afghanistan unter radikalislamisch-paschtunischer Führung. In der Vergangenheit fanden unzählige militante TTP-Anhänger Unterschlupf im benachbarten Afghanistan.

Beflügelt durch den Taliban-Erfolg in Afghanistan, rief die TTP zu vermehrten Angriffen gegen pakistanische Sicherheitskräfte auf. Mehr als 150 solcher Attacken, oft als Selbstmordattentate durchgeführt, wurden allein im vergangenen Jahr vermeldet. Zuletzt hatten am 18. Dezember, dem gleichen Tag wie jenem des Grenzzwischenfalls, mehr als dreißig inhaftierte TTP-Anhänger in einem Gefängnis der Stadt Bannu ihre Wächter überwältigt und als Geiseln genommen, um freies Geleit nach Afghanistan zu erpressen. Bei der Erstürmung durch das Militär starben neben zwei Soldaten und einer Geisel auch sämtliche Geiselnehmer. Die TTP bekannte sich zu Überfällen von afghanischer Seite aus auf pakistanische Grenzstationen. Um eine grenzüberschreitende Infiltration durch TTP-Militante zu unterbinden, errichtet Pakistan seit 2017 einen meterhohen Stacheldrahtzaun entlang der Grenze (Durand-Linie). „Über 90 Prozent sind bereits fertiggestellt“, erklärte jüngst ein Regierungssprecher. 

Noch im Dezember forderte Islamabad die Taliban auf, gegen TTP-Stützpunkte auf afghanischem Boden vorzugehen. Diese allerdings weisen jegliche Mitverantwortung von sich – obwohl die Taliban selbst noch im August 2021 die Freilassung von 2.300 TTP-Mitgliedern aus afghanischen Gefängnissen angeordnet hatten. Darunter jene des TTP-Kommandeurs Maulvi Faqir Mohammad. Mittlerweile scheint die Geduld Pakistans mit den störrischen Nachbarn am Ende. 

In einem Interview zum Jahreswechsel drohte Innenminister Rana Sanaullah unverhohlen: „Islamabad könnte die TTP in Afghanistan ins Visier nehmen, wenn Kabul nichts unternimmt sie zu zerschlagen.“ Zum Jahreswechsel vermeldeten lokale Nachrichtenagenturen erstmalig Angriffe pakistanischer Kampfflieger auf TTP-Ziele in Afghanistan. „Das pakistanische Volk hat furchtbar durch Terrorangriffe leiden müssen“, verkündete der Sprecher des US-Außenministeriums, Ned Price, kurz zuvor. „Pakistan hat jedes Recht, sich gegen Terrrorismus zu verteidigen.“

Eine Einschätzung, die in der Region nicht überall geteilt wird. Gerade die Regierung des benachbarten Indien sieht in Pakistan nicht das Opfer, sondern den Drahtzieher terroristischer Aktivitäten in Südasien. Neu-Delhi macht Islamabad für zahllose Anschläge von Islamisten in der Kaschmir-Region verantwortlich, auf welche Pakistan und Indien Anspruch erheben. Der letzte Krieg um die Region endete für Pakistan im Dezember 1971 mit einer bis heute auf dem Nationalbewußtsein vieler Pakistani lastenden Niederlage. Die Drohung Sanaullahs zum Anlaß nehmend, witzelte der stellvertretende Taliban-Premier Ahmad Yasir Anfang Januar unter einem Foto der Kapitulationserklärung auf Twitter: „Das ist Afghanistan, der Friedhof stolzer Weltreiche. Denkt nicht an einen Angriff auf uns, oder es folgt eine beschämende Wiederholung eures Vertrags mit Indien.“ „Das Monster verspottet seinen Schöpfer“, titelten schon tags darauf indische Zeitungen in Schadenfreude.