Die Silvesterkrawalle mit Schwerpunkt in Berlin, aber auch in anderen deutschen Großstädten wie Düsseldorf, Stuttgart oder Bochum prägen knapp zwei Wochen später noch immer die innenpolitische Debatte. Beschleunigung der Strafverfahren, Verschärfung des Waffenrechts, Streit über Böllerverbot, Verbesserung der Sozialarbeit sind die Stichworte, die zunehmend den Berliner Wahlkampf und auch die Bundespolitik bestimmen.
Neun Tage nach den Krawallen äußerte sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) erstmals persönlich zu den Ausschreitungen. Es sei wichtig, daß alles getan werde, um die Vorfälle aufzuklären. „Und natürlich darf man niemals alles beschönigen, was da stattfindet“, sagte er. Die AfD-Partei- und Fraktionschefin Alice Weidel hatte am Wochenende in einem Gastbeitrag für die Onlineseite der JUNGEN FREIHEIT eine Zeitenwende in der Migrationspolitik gefordert.
Das Erwachen am Neujahrstag 2023 erinnerte an den ersten Tag des Jahres 2016. Erst mit zeitlicher Verzögerung wurde damals die Dimension der massenhaften Übergriffe auf Frauen am Kölner Hauptbahnhof bekannt. Damals ging es um sexuelle Übergriffe, 2023 geht es um brutale Attacken auf Polizei und Feuerwehr in Berlins Multikulti-Bezirk Neukölln (327.000 Einwohner). Amtlich bestätigt wurde jedesmal ein hoher Anteil von Migranten an den Straftaten.
Alle Verdächtigen sind wieder auf freiem Fuß
Doch zunächst mauerte die Polizei, wollte deren Nationalität nicht preisgeben. Dies könne Vorurteile schüren, hieß es unter Verweis auf Richtlinien des Deutschen Presserats. Erst 68 Stunden nach der Horrornacht wurde bekannt: Nach bisherigen Angaben sind unter den 145 Tatverdächtigen 100 Ausländer, 45 sind Deutsche. Unter den Ausländern stellen Syrer und Afghanen große Gruppen. Fast alle sind männlich, zwei Drittel unter 25 Jahre alt. Unter den 45 deutschen Tatverdächtigen sind auch elf Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit, teilte die Polizei der jungen freiheit mit. Darunter Türken, Libanesen, Tunesier und Iraker. 41 Polizisten sind verletzt worden. Alle Verdächtigen sind wieder auf freiem Fuß, da kein Haftgrund vorliege.
Ermittelt wird wegen Brandstiftungsdelikten, Verstößen gegen das Sprengstoffgesetz, Landfriedensbruchs sowie tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte.
Zunächst hatten Politiker von SPD, Grünen und Linken ein generelles Böllerverbot gefordert, anstatt die Täter klar zu benennen. Am Problem vorbeireden lautete die Devise. Das M-Wort – Fehlanzeige. Als erster stellte Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) drei Tage nach den Ausschreitungen fest: „Bei den Randalierern hatten wir es offenbar ganz überwiegend mit jungen Männern in Gruppen zu tun, häufig mit Migrationshintergrund“. Da verwies Bundesinnenminister Nancy Faeser (SPD) noch auf ein „Lagebild“, das bundesweit erstellt werden solle. Aber der Wind sollte sich rasch drehen in der SPD, droht ihrer Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey doch der Machtverlust bei den nach der Pannenwahl vom September 2021 gerichtlich angeordneten Wiederholungswahl, die am 12. Februar stattfinden soll.
Faesers Kehrtwende fiel überraschend deutlich aus: Es waren „junge Männer mit Migrationshintergrund, die unseren Staat verachten, Gewalttaten begehen und mit Bildungs- und Integrationsmaßnahmen kaum erreicht werden“. Wenn etwa Feuerwehrleute in einen Hinterhalt gelockt würden, sei dies „widerlich“. 716 Berufsfeuerwehrleute und 530 Ehrenamtliche der Freiwilligen Feuerwehren waren im Einsatz. Wie sollen diese angesichts der Gewaltexzesse künftig motiviert werden, hieß es bei den Feuerwehren. Deutliche Worte fand auch Fritz Felgentreu, der bis zur Bundestagswahl 2021 für die Berliner SPD im Bundestag saß. Er beklagte den Personalmangel in der Justiz. „Wir sind an vielen Stellen unterfinanziert und brauchen Verstärkung. Wenn wir das jetzt nicht tun, führen wir dieselbe Debatte in 20 Jahren noch einmal“. Felgentreu monierte, es sei früher Politik der Neuköllner SPD gewesen, „nicht zu verschweigen oder zu bemänteln, was in der Einwanderungspolitik schiefgelaufen war“. Das „Gesicht und die Stimme“ sei Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky mit „seiner hemdsärmeligen und volksnahen Aggressivität“ gewesen. Buschkowsky selbst zeigte sich enttäuscht von seinem einstigen politischen Ziehkind Giffey: „Sie hat sich von den Menschen entfernt“.
Schnell einig war sich die Politik in der Forderung nach einer raschen Bestrafung der Täter. „Bis zu einem Urteil dürfen maximal ein paar Wochen vergehen. Nur so kann sich der Rechtsstaat Respekt verschaffen“, sagte Faeser. Da konnten sogar die Grünen zustimmen, die aber vor Vorurteilen gegenüber Migranten warnten. Berlins grüne Spitzenkandidatin Bettina Jarasch meinte: „Diese Jugendlichen, die nächste Berliner Generation, hat überwiegend Migrationshintergrund. Daran sollten sich alle mal gewöhnen“. Von „Berliner Jungs“ sprach Giffey, die an diesem Mittwoch zu einem Jugendgipfel mit Experten eingeladen hatte.
Groß war die Aufregung, als Berlins CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner die innerparteilich umstrittene Bekanntgabe der Vornamen der deutschen Tatverdächtigen forderte. Die CDU lasse ihre „rechtspopulistische Maske fallen“, empörte sich die SPD. „Wenn solche jungen Straftäter tatsächlich auch die doppelte Staatsbürgerschaft haben, dann kann man auch den Weg mal gehen, jemanden auszubürgern“, positionierte sich Berlins AfD-Chefin Kristin Brinker.
In der Diskussion über die Ursachen der Gewalt wurde immer wieder der Name der früheren Jugendrichterin Kirsten Heisig genannt. Mit ihrem 2007 entwickelten Modell sollten junge Straftäter aus erzieherischen Gründen schneller vor Gericht gestellt werden. So forderte sie beispielsweise schärfere Sanktionen, wie etwa geschlossene Heime für straffällige Kinder und die Kürzung von Kindergeld für Familien. Dieses Modell werde „nicht mehr so häufig angewendet wie vor Jahren“, bedauerte Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel, Giffeys Amtsnachfolger. Die 2010 verstorbene Richterin hatte eine rasche Ahndung kleinerer Delikte angestrebt. Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht arbeiteten dafür eng zusammen. Die Strafe müsse auf dem Fuße folgen und spürbar sein, sagt der SPD-Politiker und stellt klar: „Ein paar Sozialstunden helfen da nicht weiter“. Keine neue Erkenntnis.
Dementsprechend unmißverständlich fiel die Reaktion des Deutschen Richterbundes (DRB) aus. „Die Ampel-Koalition muß den im Koalitionsvertrag versprochenen Rechtsstaats- und Digitalpakt jetzt zügig mit den Ländern vereinbaren“, betonte DRB-Bundesgeschäftsführer Sven Rebehn. Mehr als ein Jahr nach Amtsantritt habe die Bundesregierung noch immer keine konkreten Ideen vorgelegt, wie sie einen Bund-Länder-Pakt 2.0 ausgestalten will. Das sorge in der Justiz für Irritationen. Angesichts erheblicher Personalprobleme und großer Digitalisierungsaufgaben brauche es ein umfangreiches Investitionspaket für die Justiz mit einer substantiellen Co-Finanzierung des Bundes mindestens für die kommenden fünf Jahre, so Rebehn.
Es dauerte nicht lange, da entdeckten die Wahlkämpfer die Berliner Krawallnacht. Am weitesten ging Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU), der Berlin als „Chaosstadt“ bezeichnete. Dessen Berliner Stadthalter, CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, brachte eine Kürzung des Länderfinanzausgleichs ins Spiel. Dieser setze „erhebliche Fehlanreize und sorge dafür, daß Ineffizienz und Mißwirtschaft wie in Berlin finanziell belohnt werden“. Berliner CDU-Politiker widersprachen umgehend, darunter Spitzenkandidat Wegner sowie Bundes-Generalsekretär Mario Czaja. In Bayern wird im Oktober ein neuer Landtag gewählt. Giffey konterte, Söder habe die Reichsbürgerszene in Bayern nicht im Griff. Der Bundestag wird sich in der kommenden Woche mit den Krawallen insbesondere in Berlin beschäftigen.
Die Kritik am Berliner Senat wurde geteilt vom Beamtenbund (DBB) und der Deutschen Polizei-Gewerkschaft. DBB-Chef Ulrich Silberbach warnte, „wir stehen unmittelbar davor, die Handlungsfähigkeit zu verlieren“. Man brauche nicht noch mehr Studien und Lagebilder, das sei hilfloser Aktionismus. Polizeigewerkschafter Rainer Wendt forderte, ausländische Krawallmacher müßten abgeschoben werden. Doch die Ermittlungen gegen die Straftäter dürften noch Monate dauern. „Das ist eine akribische Arbeit, und die wird nicht in ein oder zwei Wochen erledigt sein“, sagte Berlins Leitender Oberstaatsanwalt Jörg Raupach nach der Sitzung des Innenausschusses des Berliner Abgeordnetenhauses am Montag. Derzeit gebe es 281 Ermittlungsverfahren. „Wir tun unser Bestes“.