© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/23 / 13. Januar 2023

„Moderne Form des Marxismus“
Interview: Der Bildungsexperte Kevin Donnelly gilt als einer der führenden konservativen Köpfe Australiens. In seinem neuen Wörterbuch des Wokeismus analysiert er die gezielte Zerstörung unserer Kultur – läßt sich den Humor aber dennoch nicht nehmen
Moritz Schwarz

Herr Dr. Donnelly, wie „zerstört orwellsche Sprachkontrolle und Gruppendenken unsere westlichen Gesellschaften“? Wie der Untertitel Ihres Buches lautet.

Kevin Donnelly: Eines der Bücher, das mich am meisten beeindruckt hat, ist George Orwells „1984“. Dort, aber auch in „Die Farm der Tiere“ sowie in seinem ausgezeichneten Essay „Politik und die englische Sprache“, zeigt er auf, daß der Totalitarismus die Menschen mittels Manipulation der Sprache unter seine Kontrolle bringt – denn wer die Sprache kontrolliert, kontrolliert das Denken. In Orwells düsterer Vision proklamiert ein totalitäres System etwa Krieg sei Friede, Freiheit Sklaverei und Unwissenheit Stärke. Das ergibt natürlich keinerlei Sinn. Doch dank der Manipulation ihres Denkens akzeptieren die Leute sogar offensichtliche Widersprüche und halten sie plötzlich für wahr. Ja selbst, daß zwei plus zwei fünf ergibt, wird dann akzeptiert, als sei es schon immer so gewesen. Oder auch daß Geschlecht und Sexualität fließend und dynamisch seien, was die Tatsache leugnet, daß Babys entweder männlich oder weiblich geboren werden. 

Sie meinen also, was lange nur eine Warnung war, wird nun Realität?  

Donnelly: Nun, der Prozeß ist nicht neu, er begann etwa in den achtziger Jahren. Ich war damals selbst noch Lehrer an einer High-School und sah mich plötzlich mit Lehrplaninhalten konfrontiert, die offensichtlich nicht korrekt, sondern ideologisch motiviert waren. Also begann ich Nachforschungen anzustellen und mich in die entsprechende Literatur einzulesen. So verstand ich schließlich, woher diese Tendenzen kamen, vor allem aber, warum sie so gefährlich sind. Denn ich entdeckte darin eben jenes Muster der Manipulation, das George Orwell beschrieben hat. 

Der Roman „1984“ ist fast jedem ein Begriff, viele haben ihn gelesen, und auch „Farm der Tiere“ ist nicht unpopulär. Wie kann sich etwas durchsetzen, vor dem quasi jeder von uns von Jugend an immer wieder gewarnt worden ist? 

Donnelly: Oh, es ist nicht nur Orwell, es gibt etliche Intellektuellen, die uns warnen oder gewarnt haben, etwa Douglas Murray in Großbritannien, Augusto Del Noce in Italien, Harold Bloom in den USA. Der Frage, warum sich dieser Wahnsinn dennoch durchsetzen kann, gehe ich im zweiten Teil meines neuen Buches nach. Die Antwort darauf beginnt damit, daß diese Entwicklung ihre Ursprünge in der aus dem Deutschland der späten 1920er Jahre stammenden „Frankfurter Schule“ hat. Um wiederum diese zu verstehen, muß man wissen, daß die Kommunisten vor dem Ersten Weltkrieg die Revolution eigentlich gar nicht im Agrarland Rußland erwarteten, sondern in den industrialisierten Staaten Westeuropas. Doch entgegen ihren politischen Theorien und zu ihrer Enttäuschung blieb sie dort aus. Das führte dazu, daß sich ein Teil von ihnen neu orientierte: Die Theoretiker der Frankfurter Schule betrachteten nicht mehr die Ökonomie als das revolutionäre Feld der Gesellschaft, sondern gaben diesbezüglich der Kultur den Vorzug. So entwickelten sie Konzepte, die Grundgedanken des Marxismus an Institutionen wie die Universitäten zu übertragen. Beiträge dazu leistete auch etwa der italienische Marxist Antonio Gramsci mit seinem Konzept der kulturellen Hegemonie, wonach, um die Gesellschaft umzustürzen, ihre kulturellen Institutionen beherrscht werden müßten. Denn der Kapitalismus reproduziere sich unter anderem durch seine Bildungs-, Erziehungs- und Kultureinrichtungen – also seien diese zu infiltrieren und zu übernehmen. Das haben seine geistigen Erben dann umgesetzt. Im Zuge der Kulturrevolution von 1968, in Deutschland etwa Rudi ­Dutschke mit dem „Marsch durch die Institutionen“, in Frankreich Philosophen wie Michel Foucault oder Jacques Derrida mit dem Postmodernismus, dem Poststrukturalismus und dem Dekonstruktivismus. 

Sie wollen sagen, was wir heute erleben ist im Grunde ein modernisierter Marxismus?

Donnelly: Nicht ganz und gar, die heutige woke Bewegung besteht aus mehreren Elementen. So finden wir zum Beispiel auch die Idee der Erbsünde. Doch ist der vor allem von der Frankfurter Schule entwickelte Kulturmarxismus ein wesentlicher Bestandteil. Nun kommen wir aber zur Beantwortung Ihrer Frage, warum er sich durchsetzen konnte: Das Problem ist, daß unser populäres Bild vom Marxismus mit dessen Evolution nicht Schritt gehalten hat. Denn noch heute verbinden die meisten damit nur eine ökonomische Theorie und eine politische, aber keine kulturelle Bewegung. Daher ist es unbedingt notwendig, nachzuziehen und ein modernes Verständnis des Marxismus zu entwickeln, um ihn erkennen und bewerten zu können. Denn nur dann kann sich eine freiheitliche Gesellschaft seiner erwehren. Solange das aber nicht der Fall ist, wird die ideologische Dimension all dieser scheinbar neuartigen politisch korrekten Erscheinungen, wie die radikale Gender-Theorie, Intersektionalismus, linke Identitätspolitik, „Black Lives Matter“ etc. nicht durchschaut und man geht ihnen auf den Leim: Diese radikalen Bewegungen erscheinen als idealistische Befreiungsbestrebungen, statt als Form des Totalitarismus. 

In Deutschland gilt bereits der Begriff Kulturmarxismus als eine rechtsextreme Chiffre, als Wahnidee und Verschwörungsideologie.

Donnelly: Das ist nicht wahr. Nicht nur ich verwende ihn, ebenso tut es etwa der prominente britische Tory-Politiker Michael Gove, bis 2022 Minister in mehreren Kabinetten, in seinem Buch „Celsius 7/7“ oder der amerikanische Autor Roger Kimball in seinem Buch „The Long March“.

Für deutsche Augen kommt Ihr „Dictionary of Woke“ recht ungewohnt daher, denn der Umschlag macht eher den Eindruck einer leichten Urlaubslektüre, als den einer politischen Analyse. 

Donnelly: Nun, schaut man näher hin, erkennt man schnell, daß es nichts mit Urlaub zu tun hat, denn man sieht keine Sonnenbrille, sondern die Brille der Voreingenommenheit, symbolisiert durch die Farben des Regenbogens, die heute die einer ideologischen Bewegung geworden sind. Dazu eine Reminiszenz an den Kommunismus in Gestalt von Hammer und Sichel sowie in der Titelschrift die Faust der „Black Lives Matter“-Bewegung – die aber auch für die Idee der Revolution steht. Natürlich aber soll die Titelbildgestaltung eventuelle Hemmungen abbauen, das Buch in die Hand zu nehmen und anzulesen. 

Im ersten Teil, dem Wörterbuch, paraphrasieren Sie verschiedenste Begriffe. Einige ganz nüchtern, aber mit Aha-Effekt, da man sich ihres unterschwelligen weltanschaulichen Gehalts gar nicht bewußt war, etwa: „Partner – früher in der Wirtschaft Bezeichnung von Personen, die zusammenarbeiten, heute geschlechtsneutral für Personen, die verheiratet sind oder in einer Beziehung leben.“ Andere Begriffe bedenken Sie mit Ironie: „Kahlköpfig – früher Menschen ohnHaare, heute durch politisch korrekte Alternativen zu ersetzen, etwa ‘bezüglich des Bestands an Haarfollikeln herausgefordert’ oder ‘Haupthaar benachteiligt’.“

Donnelly: Sowohl die Form des Wörterbuchs als auch die Verwendung von Humor und Ironie stehen durchaus in der Tradition gesellschaftsanalytischer und -kritischer Schriften. Denken Sie etwa an Jonathan Swift, vor allem bekannt durch seine Gesellschaftssatire „Gullivers Reisen“. Ebenso finden Sie das bei Oscar Wilde, George Bernard Shaw und anderen. Es stimmt, daß viele meiner Paraphrasierungen humoristisch sind, doch gefriert das Lachen, wenn man sich klar macht, daß hinter all dem ein unerbittlicher ideologischer Ernst steht. Denken Sie daran, daß an englischen Universitäten bereits Autoren wie T. S. Elliot oder William Butler Yates, ja selbst Chaucer gestrichen werden! Begründung: Sie seien „tote, weiße Männer“, von denen man sich befreien müsse. An einigen Unis wird inzwischen sogar die Aufklärung abgelehnt, da ihr Imperialismus und Kolonialismus implizit seien. 

Diesbezüglich lernt man in Ihrem Buch, daß deshalb auch der australische Nationalfeiertag unter Beschuß ist.

Donnelly: Deutschen Lesern ist vielleicht das Bestreben in den USA bekannt, den Gründungsmythos der Nation – 1776, das Jahr der Unabhängigkeitserklärung – durch ein Narrativ der Schuld und die Zahl 1619 zu ersetzen: Das Jahr, in dem das erste Sklavenschiff die damals noch englischen Kolonien erreichte. Unser „Australia Day“ erinnert an die Ankunft der sogenannten „First Fleet“, der Ersten Flotte, im Jahr 1788 und die Gründung einer Strafkolonie dort, wo heute Sydney ist. Doch anstatt die Ankunft der First Fleet zu feiern, verurteilen woke Kritiker die europäische Besiedlung Australiens als „Invasion“, die zu „Völkermord“ geführt habe. 

Was aber doch auch nicht falsch ist.

Donnelly: Es ist falsch. Die Ankunft der First Fleet war keine Invasion. Vielmehr hatte Gouverneur Arthur Phillip die Order der britischen Admiralität, nicht den Konflikt, sondern die Koexistenz mit den Aborigines zu suchen. Zudem kamen mit der First Fleet die Bibel und William Blackstones „Law of England“ nach Australien. Wir verdanken ihr also auch den Rechtsstaat und Parlamentarismus nach britischem Vorbild. Doch diese positive Botschaft will man, wie in den USA, durch die Verknüpfung mit Unrecht und Schuld ersetzen.

Sie gelten als Experte für das australische Bildungssystem. Wie tief ist all das dort bereits eingedrungen?

Donnelly: Die Wahrheit ist, die Barbaren stehen nicht mehr vor den Toren – sie haben die Zitadelle bereits genommen! Die woke Bewegung dominiert leider inzwischen weitgehend unseren Bildungs- und Erziehungssektor. Was mich als ehemaligen Lehrer für Englisch und Literatur besonders schmerzt, in diesen Fächern geht es nicht mehr um die Logik und Schönheit der Sprache, um die Ästhetik und Moral der Literatur, sondern nur noch um Dekonstruktion, um sich tatsächlich oder angeblich darin widerspiegelnde Machtverhältnisse, Klassenfragen und natürlich um Gender etc. Englisch soll auch nicht mehr als Muttersprache, sondern als „die Sprache der Unterdrücker“ empfunden werden. Und es gibt sogar die Forderungen, das Fach Englisch umzubenennen, um den Namen zu streichen. So wird unsere Kultur systematisch unterminiert. 

Aber Sie haben doch selbst am „Australian National Curriculum“, dem nationalen Lehrplan, mitgewirkt. 

Donnelly: Ja, aber das war 2014 und nur möglich, da ich die Unterstützung des damaligen konservativen Regierungschefs Tony Abbott hatte. Die ACARA aber, das Gremium, das den National Curriculum erstellt, hätte mich von sich aus niemals berufen.

Sie sind aber doch offenbar eine akzeptierte Autorität, kommen in Fernsehen, Rundfunk und Presse zu Wort. 

Donnelly: Ja – und dennoch: täuschen Sie sich nicht! Es sind fast ausschließlich die vom Medienunternehmer Rupert Murdoch kontrollierten Medienhäuser, die mich noch einladen. Und ebensowenig wie in den woken australischen Medien hätte ich an den Universitäten von Sydney, Melbourne etc. eine Chance, die sich alle dem Kulturmarxismus ergeben haben. Es ist allein die Katholische Universität von Australien, die jemanden wie mich noch lehren läßt, weil sie noch ein pluralistisches Verständnis pflegt und sich dem verpflichtet fühlt, was T. S. Elliot so umschrieb: „Bewahrung des Wissens, um die Wahrheit zu erforschen und – soweit der Mensch dazu fähig ist – Weisheit zu erlangen.“

Dennoch, außer Regierungschef Tony Abbott hat Sie auch Ex-Premierminister John Howard öffentlich gelobt. Vergleichbares wäre in Deutschland undenkbar.

Donnelly: Das ändert aber nichts an den Zuständen in unseren Erziehungs- und Bildungseinrichtungen. Etwa daran, daß Kinder in unseren Schulen dazu angehalten werden, sich öffentlich dafür zu entschuldigen, daß sie männlich sind. Oder daß in Kindergärten die Gender-Ideologie verbreitet und bereits den Jüngsten erklärt wird, daß das Geschlecht „fluide“ und nur ein Empfinden sei. All diese Dinge treffen auf sehr junge Menschen, die noch nicht über das Wissen und das geistige Rüstzeug verfügen, das zu hinterfragen und so zu erkennen, daß sie es mit Unwahrheiten einer manipulativen Ideologie zu tun haben, der sie folglich ausgeliefert sind. 

Allerdings sehen Sie doch auch positive Anzeichen.

Donnelly: Das stimmt, immer mehr Eltern sind unzufrieden, und es ist eine Bewegung entstanden, die Kinder entweder zu Hause zu unterrichten oder aber eigene Schulen zu gründen, um eine ideologiefreie Bildung zu gewährleisten. Immerhin in den USA gibt es auch schon Politiker, die diesen Trend spüren und aufgreifen und der Ideologisierung mit Gesetzen begegnen, wie die republikanischen Gouverneure Ron DeSantis in Florida oder Glenn Youngkin in Virginia. Doch ebenso wie der kulturmarxistische Marsch durch die Institutionen Jahrzehnte gedauert hat, muß auch die Gegenbewegung mit einer langen Zeitspanne rechnen. Deshalb ist es mir auch so wichtig, mit meinem „Dictionary of Woke“ den Leuten vor Augen zu führen, daß wir es mit einer wirklich ernsten Gefahr zu tun haben und daß diese nicht von alleine verschwinden wird, sondern daß die Bürger sich dagegen organisieren müssen. Und daher machen mir Fälle wie der einer jungen Australierin Mut, die beim Ausfüllen der Formulare des staatlichen Gesundheitsdienstes für ihr neugeborenes Baby entdeckte, daß dort der Begriff „Mutter“ durch „birthing person“, also Gebärende, ersetzt worden war. Und die daraufhin offenbar so schockiert war, daß sie via soziale Medien öffentlich empört dagegen protestierte und so nicht nur in Australien eine Medien­berichterstattung auslöste, sondern bis hin nach Großbritannien. Zu Recht warf sie der australischen Regierung vor, mit solchen Maßnahmen aus Angst vor einer Minderheit politischer Lobbyisten Frauen herabzuwürdigen und sich am Abbau ihrer Rechte zu beteiligen. Und allen, die sich durch das Wort Mutter ausgeschlossen oder gar beleidigt fühlten, empfahl sie dringend, sich ärztliche Hilfe zu suchen.






Dr. Kevin Donnelly, der Erziehungswissenschafler der Katholischen Universität Australiens, geboren 1952, war Mitglied etlicher Fachgremien für schulische Bildung und publizierte über ein Dutzend Bücher. Jüngst erschien sein Wörterbuch des Wokeismus: „The Dictionary of Woke. How Orwellian Language Control & Groupthinking Are Destroying Western Societies“.

Foto: Erziehungswissenschaftler Donnelly: „Eine totalitäre Gefahr, die nicht von alleine wieder verschwinden wird“