© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/23 / 06. Januar 2023

Der Flaneur
May schlägt Marx
Paul Leonhard

Marx, Engels, Lenin waren die ersten, die dran glauben mußten – dünne Taschenbuchausgaben von Reclam Leipzig und dem Dietz-Verlag. Von Kant wollte ich mich nicht trennen, auch wenn er genauso unberührt seit 30 Jahren in der Reihe stand wie die kommunistischen Klassiker. Und Band 4 von Luxemburgs Gesamtwerk bleibt Tabu, beinhaltet er doch ihre berühmte Kritik an der russischen Revolution.

Auch von dem Buch daneben vermochte ich mich zu trennen, dabei hatte ich auch Isaak Deutschers Stalin-Biographie seit bestimmt einem Jahrzehnt nicht mehr angerührt, aber einst in Südwest in einem Antiquariat entdeckt und zurück nach Deutschland gerettet.

Ein altes Kochbuch will ich meiner Frau andrehen, aber sie winkt ab.

Meine Buchentrümplung verlor rapide an Tempo, wandelte sich mehr und mehr zu einer Buchwiederentdeckung. Aber meine Frau stand drohend hinter mir. Mit der Mutation des Arbeits- zum Kinderzimmer und mit Ankunft der neuen Schlafzimmermöbel sollte ein kompletter Bücherschrank weichen.

Stendhal opferte ich ohne zu zögern, „Unser Backbuch“ aus der unmittelbaren Nachkriegszeit versuchte ich noch der Frau anzudrehen, aber die kreiste nur mit dem Zeigefinger an ihrer Stirn. In Nehrus „Indiens Weg zur Freiheit“ las ich immerhin noch einen Abend. Schnell weg mit der „Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki)“ von 1946. Am leichtesten fiel der Abschied von Büchern, von denen ich nicht einmal wußte, wie sie den Weg zu mir gefunden hatten.

Ärger gab es trotzdem – wegen Rewe. Der Supermarkt führt zwar keine Bücher im Sortiment, hat aber jenseits der Kassen ein Büchertauschregal stehen. Dessen Angebot fügte ich ein Dutzend ausrangierter Taschenbücher hinzu. Während ich am Einsortieren war, fiel mir ein grüner Band ins Auge, der mir vertraut vorkam. Ein dunkles Klebeband verdeckte zwar den halben Einband, aber ich hatte richtig geschaut. „Zobeljäger und Kosak“ stand auf dem Titel – Band 63 von Karl Mays Gesammelten Werken und zwar die Radebeuler Ausgabe. 

Ich legte es ganz oben auf die vollen Einkaufstüten und trat freudestrahlend meiner Frau unter die Augen. Die schüttelte nur den Kopf und stöhnte: „Verspricht, Bücher zu entsorgen und bringt neue mit.“ Zum Glück kennt sie mein Geheimregal nicht. Das steht sicher im Keller.